Am Sonntag stirbt Alison
schaufelten Wellen aus grauem Wasser von der Windschutzscheibe, während der Wagen in die zunehmende Dämmerung fuhr. Niemand sprach ein Wort. Julia Sommer starrte angespannt auf die regennasse Straße, in der sich der Widerschein der Rücklichter spiegelte, die Hände krampfhaft um das Lenkrad geklammert. Leo saß reglos an ihrer Seite, den Blick auf die vorbeihuschende Landschaft hinter dem Seitenfenster gerichtet. Sibel hatte ihr Notebook auf den Knien und irrte durch Internetlandschaften, die Lys reichlich sonderbar vorkamen. Ab und zu gab der Computer dudelnde Laute von sich, wenn wieder ein Werbefenster aufpoppte. Ansonsten waren nur das leise Summen des Motors und das Schrappen des Scheibenwischers zu hören.
Lys rutschte auf der Rückbank herum und versuchte vergeblich, eine bequemere Position zu finden. Das war hier ganz offensichtlich ein Sportwagen und keine Familienkutsche, bei dessen Sitzkomfort man eindeutig gespart und dafür lieber in protzige Heckspoiler investiert hatte. Selbst Lys mit ihrer relativ geringen Größe von knapp 1,67 wusste nicht, wohin mit ihren Beinen. Sebastian hätte man auf dieser Bank vermutlich zusammenfalten müssen.
Sie hatte unwillkürlich laut geseufzt, was Sibel zum Anlass nahm, zum ersten Mal seit einer halben Stunde den Blick vom Bildschirm zu nehmen und den Kopf in ihre Richtung zu drehen. »Ist was?«, fragte sie.
»Nein. Mir tun nur die Beine weh.« Lys dachte, dass es wahrscheinlich nicht so gut ankäme, wenn sie sich in Julia Sommers Gegenwart über die Unbequemlichkeit der Rückbank beklagen würde. Ohne sie hätten sie schließlich überhaupt keinen fahrbaren Untersatz gehabt. Offenbar war sie doch ganz in Ordnung, abgesehen von ihrem merkwürdigen künstlichen Getue.
»Ach so. Ich dachte schon, du stirbst vor Sehnsucht nach deinem Kumpel Sebastian.« Sibels Blick ging zum Bildschirm zurück.
»Wie bitte? Du spinnst ja wohl.«
»Mach dir keine Sorgen um den«, meinte Sibel ungerührt. »Schließlich wollte er unbedingt mit seinem blöden Motorroller fahren, trotz dieses Mistwetters. Außerdem kann er ja schwimmen, oder?«
Lys knurrte etwas Unverständliches. Özil, der zu Sibels Füßen kauerte, stieß ein protestierendes Jaulen aus. Er empfand diese Fahrt offenbar als ähnliche Zumutung wie Lys. »He, beschwer dich nicht bei mir, Hundevieh«, sagte Sibel. »Wenn du jemanden beißen willst, dann die Irre neben mir. Die hatte schließlich die bescheuerte Idee, wie die Feuerwehr nach München zu düsen.«
»Es ist wichtig!«, fauchte Lys.
»Es ist Schwachsinn. Was bitte bringt dich auf die Idee, wir könnten mehr herausfinden als die Polizei? Und selbst wenn wir Alisons Entführer aufspüren sollten – schon mal daran gedacht, dass die vielleicht bewaffnet sein könnten? Und möglicherweise nicht allzu viel Skrupel haben, diese Waffen auch zu benutzen?«
»Hat dich keiner gezwungen mitzukommen!«, schimpfte Lys.
»Ach. Und wer passt dann auf euch zwei Irre auf?«
»Auf mich muss niemand aufpassen. Und auf Sebastian auch nicht«, empörte sich Lys.
»Nee, klar.«
»Und was soll das jetzt heißen?«, fragte Lys schnippisch.
»Das soll heißen, dass ihr zwei hier mit einem Volltrauma durch die Gegend lauft und meint, ihr müsstet euch und der Welt etwas beweisen, auch auf die Gefahr hin, dass ihr dabei draufgeht.«
»Quatsch«, murmelte Lys.
»Mann, glaubst du, ich bin blöd, oder was? Da stellt jemand eine Todesdrohung ins Netz und Lysande Thieler lässt sofort alles stehen und liegen und eilt zur Rettung des armen Opfers. Die Sache mit deiner Mom hat dich völlig irregemacht. Dieser Benni hatte schließlich auch über die Vereinswebsite angekündigt, dass er am nächsten Tag mit einer Knarre anrücken würde. Und jetzt denkst du die ganze Zeit darüber nach, warum damals niemand darauf reagiert und ihn aufgehalten hat. So wie du das jetzt gerade versuchst. Denn dann wäre deine Mom schließlich noch am Leben. Es ist aber leider zu spät, Lys. Auch wenn du ganz offensichtlich der Meinung bist, es würde etwas ändern, wenn du ein ähnliches Verbrechen verhinderst.«
»Das ist überhaupt nicht wahr. Das hier hat nichts mit Benni zu tun.«
»Ha! Wer’s glaubt!«
»Hör mal, Sibel, ich…« Lys brach ab, als sie bemerkte, dass Leo Lambert mit irritiertem Gesichtsausdruck zu ihnen nach hinten sah. Auch Julia Sommers Aufmerksamkeit war augenblicklich nur noch zu zwanzig Prozent auf die Straße und ansonsten auf die beiden Mädchen auf der Rückbank
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