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Ambient 02 - Heidern

Ambient 02 - Heidern

Titel: Ambient 02 - Heidern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Womack
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an den Brustkorb gezogen und die Arme um die Beine geschlungen. Seine mühevollen Atemzüge drangen wie stoßweises Rauschen aus der Gegensprechanlage. Avi betrat in knielangem Kittel den weißen Raum, blieb in der hinteren linken Ecke stehen. In Lesters Nähe standen zwei Schaufensterpuppen, zwei halbe Figuren, die Schneiderbüsten mit formlosen Köpfen ähnelten; ihre Gipsrümpfe steckten auf Dreibeinen, die mit Rädern versehen waren.
    »Da wir sämtliche erhältlichen Informationsquellen zur Hand haben«, sagte Bernard, der neben mir saß, »Gerichtsprotokolle, Polizeiberichte, Fotografien des Hauses und der Familie, Niederschriften der Zeugenaussagen und Zeitungsaufsätze, können wir anfangen. Es ist zu beachten, daß seitens des Subjekts ein gewisses Rollenspiel unvermeidlich und daher auch für den Befrager, der sich darin einzufühlen hat, wesentlich ist.« Er ergriff ein schnurloses Mikrofon.
    »Bernard«, sagte ich, »das ist einfach ungehörig. Sie helfen ihm nicht. Sie bestrafen ihn.«
    »Strafe ist eine biblische Maßregel, glaube ich«, entgegnete er. »Von vorn bis hinten. Heda, Wunderknabe! Hören Sie uns?«
    Ungeachtet der tatsächlichen oder scheinbaren Entfernung sah ich Lester eine derartige Erweiterung der Augäpfel an, daß Schwärze das Blau völlig ersetzt hatte. Er starrte in die weiße Welt seiner Umgebung hinaus, sein Kopf wackelte so locker auf dem Hals, als wäre er abgenommen und nicht richtig wiederangebracht worden.
    »Wie alt sind Sie, Lester?«
    »Neunundzwanzig«, antwortete er. Mit einer Hand strich er sich durchs Haar, als wollte er es kämmen. »Glaub ich. Weiß nicht.«
    »Wir müssen wie Kinder sein, wenn wir ins Himmelreich einziehen wollen«, sagte Bernard. »Du bist neun Jahre alt.«
    »Neun«, wiederholte Lester. »Neun Jahre alt.«
    »Sehr gut. Erkennst du, wo du bist? Schau dich um.«
    »Wo bin ich?« fragte Lester.
    »Im Wohnzimmer deines Elternhauses. Siehst du es? Siehst du den Kamin? Eine große Natursteinmauer? Die drei Messingteller, die überm hölzernen Kaminsims hängen? Die Feuerstelle aus Schiefer und das alte Butterfaß? Was siehst du sonst noch?«
    »Den Bratrost«, sagte Lester, betrachtete einen Abschnitt weißer Wand. »Eine kleine Sitzbank. Den Hundekorb.«
    »Jede Familie sollte einen Hund haben«, meinte Bernard. »Wie heißt euer Hund, Lester?«
    »Snoopy.«
    »Wie originell«, kommentierte Bernard. »Bedenkt man den Beruf deines Vaters, hätte ich eher gedacht, er hieße Johannes der Täufer …«
    »Mr. Leibson«, zischelte Frank leise dazwischen, indem er den Kopf schüttelte, »bringen Sie ihn nicht unnötig durcheinander.«
    Bernard legte kurz die Hand aufs Mikrofon. »Mein Fehler«, flüsterte er. »Lester? Hat Snoopy sich heute früh komisch benommen? So daß man fast glauben könnte, es wäre irgend etwas nicht in Ordnung?«
    »Hn-nh.«
    »Aber jemand anderes im Haus ist seit einiger Zeit nicht mehr die Alte, stimmt's? Wer ist die Störenfriedin?«
    »Ich bin doch neunundzwanzig«, sagte Lester.
    »Du bist neun Jahre alt, Lester. Weißt du, welches Datum heute ist?«
    »Nee.«
    »Der neunzehnte September neunzehnhundertachtundsiebzig. Wer ist die Störerin, Lester?«
    Lester krampfte sich noch stärker zusammen, preßte das Gesicht auf die Knie. »Mama.«
    »Deine Mutter führt sich sonderbar auf? Was macht sie?«
    »Sie kommt nicht mehr aus 'm Zimmer«, antwortete Lester. »Und sie läßt Papi nicht 'nein.«
    »Armer Papi«, sagte Bernard. »Ist deine Schwester zu Haus?« Lester nickte, schwieg jedoch. »Ihr Name ist Betsy? Wie alt ist Betsy? Zwölf?« Bernard erhielt keine Antwort und lenkte seine Fragen in eine andere Richtung. »Womit beschäftigt dein Papi sich gerade?«
    »Er ist in seinem Zimmer. Schreibt die Predigt. Für morgen.«
    »Dann ist heute Samstag«, schlußfolgerte Bernard. »Hört er beim Schreiben Musik?«
    »Ja.«
    »Ein klassischer Pfaffe dürfte ja wohl ein Verehrer klassischer Musik sein«, sagte Bernard. »Was hört er? Von Zwölftonmusik hält er nicht viel, vermute ich. Ebensowenig von schwermütigem Romantizismus, der bloß die Arterien der Seele verstopft …«
    »Mr. Leibson …«
    »Choräle sind spirituell so erhebend.« Aus getarnten Lautsprechern erklang Musik, ihre Lautstärke schwoll empor, durchhallte beide Räume. »Gregorianik, war's das? Oder Bach? Taverner? In dieser Beziehung sind unsere Informationsquellen lückenhaft. Sagen wir mal, Thomas Tallis. Ist das keine schöne Musik? Was fällt dir ein,

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