Ambler by Ambler
angestellt?«
»Während des Unterrichts gesprochen.«
»Bloß gesprochen? Ich glaub dir kein Wort, du kleiner Teufel. Ich bin gespannt, was dein Vater dazu sagen wird!«
Er sagte nicht viel. Darüber, daß ich die Missetat begangen hatte, schien er sich ebensosehr zu freuen wie darüber, daß ich bestraft worden war. Es bewies, daß ich ein Mann war.
Die Verstöße, deretwegen ich verprügelt wurde, hingen meistens damit zusammen, daß ich meine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Diese Versäumnisse konnte ich manchmal vertuschen, und manchmal gelang es mir, mich irgendwie herauszureden. Ich stellte fest, daß die meisten Lehrer lieber eine interessante neue Ausrede akzeptierten als eine abgedroschene. Wenn die Phantasie erlahmte, griff ich zu Halbwahrheiten. Falsche Offenheit konnte entwaffnend sein, doch nur, wenn man seinen Gegner kannte. Einmal hatte ich keine Lust mehr, F. E. Bennett mit raffinierten Lügen zu kommen. Ich fand ihn sympathisch. Als er mich das nächste Mal fragte, wo mein Geschichtsaufsatz sei, sagte ich, ich hätte ihn nicht geschrieben.
»Warum nicht?«
»Ich war zu faul, Sir.«
Er überlegte kurz, dann lächelte er schwach und zuckte mit den Schultern. Eine Strafe wurde nicht verhängt. Hätte ich die Wahrheit gesagt – daß ich den Aufsatz nicht geschrieben hatte, weil ich über den Krieg der Rosen nichts hatte sagen können, was nicht genauso langweilig gewesen wäre wie Stevensons Der schwarze Pfeil – dann hätte er mich bestrafen müssen. Faulheit ist ein bequemer, uralter Vorwurf der Lehrer. Die Vorstellung, daß der Schüler vielleicht gar nicht faul ist, sondern sich bloß (und zwar verständlicherweise) langweilt, wirft ein schlechtes Licht auf die Unterrichtsmethoden des Lehrers und ist folglich unannehmbar. Sich im Unterricht zu langweilen ist schlimmer als eine Sünde. Es ist eine Todsünde, und wer das zu erkennen gibt, ist unverschämt. Sünde ist weniger riskant. Also, sieh den Lehrer unbewegten Gesichts an und überrasche ihn. Sag ihm, was er hören will, etwas, von dem er denkt, daß er es schon längst weiß, sag ihm, du bist faul.
Bei freundlichen Lehrern reichten einfache Lügen völlig aus. Bei den anderen plante ich sie sorgfältiger. Am verwundbarsten waren sie zu Prüfungszeiten, wenn sie in ihrem Berufsstolz nach all den aufgewendeten Mühen den Erfolg sehen wollten. Das war der Moment, um loszuschlagen. Überraschung war die Taktik, Enttäuschung die Waffe. Dort, wo ich es eigentlich geschafft hätte, richtete ich es so ein, daß ich schlechte Noten bekam. Im einen Halbjahr ganz oben, im nächsten ganz unten in demselben Fach. Das war meine Kampfmethode, und sie war wirklich sehr anstrengend. Langsam empfand ich Bestraftwerden als sinnvoll. Es stärkte die Entschlußkraft und nährte den Haß, den ein Gegner der Gesellschaft braucht, wenn er Krieg führt.
Natürlich hatte ich Verbündete. Sie hießen Edmond Dantes und A. J. Raffles, Arsène Lupin und Long John Silver, Rupert of Hentzau und Old Blind (Wenn-ich-bloß-sehen-könnte) Pew. Es gab noch andere. Gottseidank hatte ich auch Freunde. Der erste war George Sims.
Bevor ich von meinem Vater ein Fahrrad bekam, fuhr ich mit der Trambahn, die zwischen Lewisham und Lee Green, verkehrte, zur Schule. Obwohl Sims und ich in dieselbe Klasse gingen, entwickelte sich unsere Freundschaft eigentlich deswegen, weil wir zusammen mit der Trambahn fuhren und von Lee Green denselben Nachhauseweg hatten. Sims war das, was man damals als »zart« bezeichnete. Er hatte Rheuma gehabt und brauchte, im Gegensatz zu uns anderen, an den harmlosen Turnstunden nicht teilzunehmen. Er war blaß und zerbrechlich und hinkte leicht. Da er auch hochintelligent und sehr fleißig war, betrachtete man ihn im allgemeinen als ungefährlichen Streber und ließ ihn in Ruhe. Allmählich erst entdeckte ich, daß in diesem Streber eine Begeisterung für Kriminalgeschichten und Melodramatisches steckte, die der meinen in nichts nachstand. Seine Helden waren die großen, wissenschaftlich vorgehenden Detektive: Sherlock Holmes und Dr. Thorndyke natürlich, aber auch der weniger bekannte Professor S. F. X. Van Dusen, jene erstaunliche und omnipotente Denkmaschine, die von Jacques Futrelle erfunden wurde.
Mr. Sims, ein ehemaliger Werkzeugmacher, hatte sich zum Maschinenbauingenieur emporgearbeitet, der eine wichtige Stellung im Woolwich Arsenal innehatte. Über die Art seiner Tätigkeit wurde nie gesprochen. Er war ein großer, ruhiger, sehr
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