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Ambra

Ambra

Titel: Ambra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabrina Janesch
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so, als ob die Stadt niemals wieder sauber werden könnte, als müsse erst jemand das Seifenwasser der See über die Stadt ausleeren, damit sie sich reinwasche.
    Mit weit aufgerissenen Augen starrte der Junge auf den hellen Schaum, der sich auf dem Wasser gebildet hatte, und stellte sich vor, wie er zusammen mit dem Dreck der Stadt durch den Fluss und die Kanäle zurück ins Meer laufen würde. Aber dann? Das Einzige, was in der Stadt so bleiben würde wie bisher, war, dass Tante Agnes und ihr kleiner Sohn Brunon nach wie vor dort wohnten. Merkwürdig war das Emmerich vorgekommen: Alle hatten versucht, aus der Stadt zu fliehen, nur Agnes war entschlossen gewesen dortzubleiben.
    Am Tag vor ihrer Flucht, als Lilli gerade dabei war, die Wollsachen des Jungen zusammenzupacken, hatte er nachdenklich danebengestanden und gefragt, ob die Mutter von Brunon auch gerade die Sachen packen würde, der sei doch noch so klein, der könne das nicht selber, er aber, Emmerich, sei kein Baby mehr und könne seine Pullover sehr wohl … Sei still, fuhr Lilli ihn an. Emmerich erschrak, als er den Zorn in ihren Augen sah. Die gehen nicht, sagte sie, um Ruhe bemüht, die bleiben. Das sind Polen, in Zukunft, das weißt du doch. Da fiel es Emmerich wieder ein: Natürlich, das hatte Hansi Bleckedes Großvater erzählt: Die Polen würden bleiben, auch wenn alle anderen gegangen sein würden, jetzt würden nämlich neue Zeiten anbrechen, aber nicht für ihn, er sei zu alt, und alles Deutsche um ihn herum sei auch zu alt für die neuen Zeiten, vor allem aber zu deutsch. Die Kinder hatten sich nicht getraut zu fragen, was denn das für Zeiten seien, aber weil sie für gewöhnlichalles, was der alte Bleckede sagte, für Märchen hielten, hatten sie darüber gelacht, als sie sein Zimmer in Hansis Elternhaus verlassen hatten.
    Emmerich klammerte sich so sehr an der Reling fest, dass seine Knöchel weiß unter seiner Haut hervorschienen: nur nicht loslassen und ins Wasser geschleudert werden! Während der Sonntagsausflüge ans Meer hatte er es seiner Mutter niemals erzählt, aber wenn er auf der Mole stand und ihn dieses sonderbare Schwindelgefühl überkam, dann war ihm unsäglich bange vor dem Wasser. Unter der Mole hatte es sich gekräuselt und war gegen die muschelbewachsenen Pfähle geschwappt, so dass sich Emmerich am liebsten flach auf die Planken gelegt hätte, um nicht zu stürzen.
     
    Er starrte hinunter ins Meer, auf dem große Stücke von Holz und Metall trieben. Emmerich schloss die Augen, um nicht das Wasser zu sehen, das ihn verschlingen konnte, so wie der Krieg die Stadt verschlungen hatte. Vor ein paar Minuten war Lilli Mischa weggegangen und noch immer nicht zurückgekehrt. Die Großmutter saß neben ihm, in sich zusammengesunken, sie schien zu beten. Lilli hatte nach irgendwelchen Verwandten suchen wollen oder einem besseren Platz, so ganz hatte Emmerich das nicht begriffen, nur, dass er hier bei der Großmutter und nirgendwo anders warten sollte. Er schaute hinüber zu einer Gruppe von Kindern, aber erkannte niemanden. Eines von ihnen war anscheinend verletzt, es trug eine dreckige Armbinde und durfte sich auf einen geöffneten Seesack legen. Ein bisschen sah es aus wie Hansis jüngere Schwester Greta, aber das war nicht Greta, Greta war doch mollig gewesen und voller Sommersprossen. Wie sie immer im Garten herumgetolltwar! Weil sie beim Spielen im Gras immer ihre Kleider dreckig machte, hatte ihre Mutter ihr Hansis ausgediente Hose angezogen, und Greta war darin herumgelaufen, ohne sich zu schämen. Einmal war sie sogar die Regenrinne hinaufgeklettert …
    Hansis Elternhaus. Als sie an den Überresten vorbeigekommen waren, hatte seine Mutter der Großmutter zugeflüstert, dass der alte Bleckede überlebt habe, in jener Nacht sei er auf dem Schwarzmarkt gewesen, und nun habe er vor, in der Stadt zu bleiben, trotz allem.
    Einen alten Baum verpflanzt man nicht mehr, habe er gesagt, und Emmerich hatte sich sehr gewundert, weil er wirklich immer gedacht hatte, dass die Hände vom alten Bleckede aussahen wie altes Wurzelholz, knorrige Äste. Emmerich stellte sich vor, wie der alte Bleckede zu Hause im Keller saß und seine Hände nach draußen in die Erde des Gartens streckte, um ja den Halt nicht zu verlieren, und er nahm sich vor, ihm einen Brief zu schreiben, irgendwann, wenn sie an diesem Ort namens Dänemark angekommen waren.
    So stark er konnte, dachte Emmerich an Willi, der niemals geweint hatte, nicht einmal, als Hansi und

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