Amelia Peabody 01: Im Schatten des Todes
seit Jahrtausenden tot war, in seiner Grabkammer zu finden. War es ein Prinz, eine Priesterin oder die junge Mutter einer königlichen Familie gewesen? Und lebte die Seele weiter in den goldenen Gefilden von Amenti, wie die Priester es versprochen hatten?
Mit frommen Überlegungen hielt sich Walter nicht auf. Er untersuchte im Licht der Fackel die mit Inschriften bedeckten Wände der Kammer. Einige flache Reliefs zeigten die majestätische Gestalt des Pharaos, ein paarmal allein, meistens mit seiner Königin und sechs kleinen Töchtern. Darüber ließ sich das Sinnbild des Gottes Aton, die runde Sonnenscheibe erkennen, die den König mit goldenen Strahlen umarmte. Jeder Strahl endete in einer winzigen menschlichen Hand.
»Nun, wollen Sie hier graben, oder soll der arme Kerl aus seinem Sarg herausgenommen und in eine behaglichere Umgebung gebracht werden?« fragte ich.
»Wenn wir ihn hierlassen, kommen sicher noch Räuber und suchen die Mumie nach Wertsachen ab. Mir scheint, dieses Grab stammt aus einer späteren Periode als jener, die wir hauptsächlich erforschen, und da waren auch die Edlen ziemlich arm. Viel würden die Plünderer hier nicht finden.«
Aber da sagte einer der Dorfbewohner etwas zu Walter, und er berichtete es mir. »Er ist ein Prinz und Zauberer gewesen, sagt Mohammed. Aber ich denke, er behauptet das, um ein höheres Bakschisch zu bekommen. Der Sarg hat nämlich keine Inschrift, die den Namen der Mumie erwähnt.« Mohammed hatte nämlich das Grab entdeckt und Walter davon berichtet. Er war etwa dreißig Jahre alt, sah aber wie ein Greis aus.
»Ja, wir müssen unseren unbekannten Freund mitnehmen«, fuhr Walter fort. »Radcliffe kann ihn auswickeln. Dann hat er etwas zu tun.«
Emerson freute sich wie ein Kind über diesen Fund, und er ging sofort an die Arbeit. Allerdings war er dann enttäuscht, weil die Mumie nach der Art der Wickelung aus der griechischägyptischen Zeit stammte. Walter erklärte ihm lachend, nach Mohammed sei es aber ein Prinz und Zauberer, ein Priester des Amon, der einen Fluch auf die ketzerische Stadt gelegt habe. »Und da wäre eine neue Aufgabe für dich«, meinte er abschließend. »Man könnte die Traditionen und Sagen dieser Leute erforschen. Es würde unserer Arbeit nützen.«
»Was habt ihr denn nun mit unserem Freund getan?« fragte ich, um den wissenschaftlichen Streit der beiden etwas abzukürzen. »Ich hoffe, ihr steckt ihn uns nicht in unseren Schlafraum. Das hielte ich für ungesund.«
Da lachte Emerson schallend. »Keine Angst, die Mumie ist am Ende des Pfades in einer Höhle versteckt.«
»Morgen früh könnte ich mir eigentlich das Grab anschauen, dann bleibt mir der Nachmittag für die Arbeit am Pflaster«, bemerkte ich.
»Du lieber Gott, Madam, Sie halten sich doch hoffentlich nicht für eine Archäologin?« protestierte Emerson. »Was hoffen Sie dort zu finden?«
Walter und Evelyn versuchten fieberhaft, das Thema zu wechseln. Es gelang ihnen auch einigermaßen, aber Emerson blieb den ganzen Abend über brummig.
»Nehmen Sie’s ihm nicht übel, Miß Peabody«, bat Walter. »Er ist noch nicht ganz so wie früher.«
»Das stimmt, denn wenn er gesund ist, redet er noch viel lauter und streitsüchtiger«, antwortete ich. »Aber ich fürchte, wir sind alle ein bißchen nervös und gereizt. Besser wäre, wir gingen zu Bett.« Und das taten wir auch alle.
Ich war schon früher auf die Tatsache gestoßen, daß ein gesunder Schläfer sich von normalen Geräuschen nicht stören läßt, von unbekannten und außergewöhnlichen jedoch sofort aufwacht. Amarna war sicher eines der stillsten Fleckchen der Erde. Ab und zu heulte in der Ferne ein liebeskranker Schakal, aber sonst rührte sich nichts. Es war also nicht besonders erstaunlich, daß ich in jener Nacht plötzlich hellwach im Bett saß. Ich hörte ein Geräusch, und es klang ungefähr so, als kratze etwas Knochiges auf einem Stein herum.
Instinktiv griff ich nach meinem Sonnenschirm, der als Waffe durchaus geeignet war, weil er einen sehr kräftigen stählernen Stock hatte. Dann erst rief ich leise: »Wer ist da?«
Antwort erhielt ich keine, doch das Kratzen hörte auf. Ein paar Augenblicke später vernahm ich leise, tappende Geräusche, als habe jemand einen sehr hastigen Rückzug angetreten.
Ich sprang aus dem Bett, rannte zum Eingang und riß
den Vorhang weg. Nur flüchtig schoß mir der Gedanke an wilde Tiere, in erster Linie Löwen, durch den Kopf, denn die waren am Wüstenrand zwar nicht
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