Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
dürfen. Diese bestand zu einem Großteil aus Schminke, Puder und Färbemitteln, die die natürliche Haut- und Haarfarbe veränderten. Darüber hinaus gab es einige genial konstruierte Knebel, die, in den Mund geschoben, die Gesichtsform veränderten; diverse Gebisse; Bärte in allen Variationen und Echthaarperücken. Unter diesen befand sich auch ein Exemplar, das jede modisch orientierte Dame mit Neid erfüllt hätte: eine üppige Lockenpracht, seidenweich und goldblond. Ramses war es geschickt gelungen, diese Perücke seiner Kopfgröße anzupassen, indem er das Haar kürzte und damit das Innenleben auspolsterte.
Emerson bemühte sich, mit Percy zu plaudern, hielt eine vernünftige Unterhaltung mit einem Burschen, der keine Ahnung von frühzeitlichen Töpferarbeiten oder den Prinzipien der Gesteinsformation hatte, jedoch für unmöglich und gab bald auf. Er griff zur Abendzeitung und blätterte diese durch, woraufhin ich einwarf: »Emerson, du wirst keinen Hinweis auf unser heutiges Abenteuer finden; die vorliegende Ausgabe ist schon vorher in Druck gegangen.«
»Abenteuer, Tante Amelia?« entfuhr es Percy. »Welches Abenteuer, wenn ich das fragen darf, Sir?«
Ich hätte es vorgezogen, die Kinder – insbesondere Ramses – nicht darüber aufzuklären, doch Emerson, dem mein sensibles Verständnis für das jugendliche Gemüt fehlt, verfiel sogleich in eine glühende Schilderung. Seine sarkastischen Kommentare über Mr. Budge entgingen Percy vermutlich, dennoch lauschte der Junge mit offenem Mund, als Emerson den verrückten Priester und das menschliche Chaos beschrieb.
»Wie aufregend, Sir, kann ich da nur sagen!«
»Scheußlich«, murmelte Violet.
»Scheußlich?« wiederholte Emerson unwirsch.
»Sie meint die Mumien, Sir. Du weißt doch, wie die Mädchen sind, Sir. Ich glaube, du warst fürchterlich mutig, Sir. Wie schade, daß du den Burschen nicht schnappen konntest.«
Ramses räusperte sich. »Besagte Person scheint ein hervorragendes Gespür für zeitliche Abläufe sowie den sogenannten Allerweltsgeschmack zu haben. Er rechnete mit einer großen Menschenmenge, die ihm letztlich seine unbemerkte Flucht ermöglichen sollte. Das läßt Zweifel aufkommen, ob der gedankenlos zitierte Begriff >Verrückter< auf einen solch scharfsinnigen Mann wirklich zutrifft.«
Während er sprach, streichelte er unermüdlich über das Lockenhaar der Puppe. Ich fand seinen Anblick gleichermaßen lächerlich wie alarmierend; denn wenn sich Ramses zu solchen Torheiten herabließ, mußte seine Zuneigung zu Violet sehr tief sein.
»Ein interessantes Argument, Ramses«, sagte sein Vater nachdenklich. »Allerdings sind die sogenannten Verrückten beileibe nicht schwach begabt. Sie leiden an geistiger Umnachtung oder einer mentalen Anomalie, was aber nicht heißt, daß davon ihre gesamte Intelligenz beeinträchtigt wird.«
»Wie dieser Halunke Jack the Ripper«, warf Percy ein. »Den hat man doch nie geschnappt, nicht wahr, Sir?«
»Gütiger Himmel, Percy!« entfuhr es mir. »Es erstaunt mich, wie deine Mama und dein Papa zulassen konnten, daß du etwas dermaßen Entsetzliches erfahren hast.«
»Das Personal tuschelt immer noch darüber. Du kennst doch die Klatschgeschichten der Bediensteten.«
»Scheußlich«, sagte Violet und fügte dann nachdenklich hinzu: »Tot.«
»Gütiger Himmel!« Entsetzt starrte Emerson das Kind an.
»Sie weiß nicht, was sie sagt, Emerson«, versicherte ich ihm und hoffte, daß das der Wahrheit entsprach.
»Wir können nur hoffen«, sagte Ramses, »daß der vorliegende Fall keine Parallelen aufweist. Denn wenn es sich bei dem Täter um einen Mordfanatiker mit einem zwanghaften Haß gegenüber einem bestimmten Gewerbe handelt, befindet sich niemand mehr in Sicherheit, der in irgendeiner Verbindung zum Museum steht.«
Diese Aussage warf so viele gräßliche Eventualitäten auf, daß ich läutete und das Teegeschirr abräumen ließ. Ich hatte keine Lust auf Ramses’ Ausführungen, über welche Kanäle er vonJack the Ripper erfahren und wie er insbesondere herausgefunden hatte, daß jener einen zwanghaften Haß gegenüber dem hegte, was man gemeinhin als spezielles »Gewerbe« bezeichnet.
Als ich Emersons Reaktion auf Ramses’ Erwähnung des Begriffs »Mordfanatiker« bemerkte (dieser Ausdruck trifft ihn beinahe so empfindlich wie »Meisterverbrecher«), entschied ich, ihm Zeit zu lassen, bis er sich wieder beruhigt hatte, bevor ich das Thema erneut aufgriff. Deshalb wartete ich ab, bis wir
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