Amnion 2: Verbotenes Wissen
Amnion für den Start der Kosmokapsel ’ne exakte Uhrzeit genannt. Du hast…« – sein Blick streifte das Wandchronometer – »noch sechsundzwanzig Minuten.«
Wieder entging Morn der Sinn seiner Äußerungen. Kassafort? Friedliche Hegemonie? Sie kannte diese Begriffe, aber wußte ihre Bedeutung nicht mehr. Wieso redete er vom Getötetwerden? Sie hatte noch sechsundzwanzig Minuten.
Als wäre nur der Vorsatz erforderlich gewesen, brachte sie von der Stelle in ihrem Gedächtnis, wo sie ihn verlegt hatte, seinen Namen zum Vorschein. »Sib Mackern. Was tust du hier?« Das Bild der Situation fügte sich zusammen, sobald sie gewisse Sachverhalte aussprach. »Dafür ermordet er dich.«
»Ich kann’s ganz einfach nicht mitansehen«, antwortete Mackern, als ob er sie mit einmal Mal verstünde, genau wüßte, wessen sie bedurfte; als ob seine Furcht ihn dazu befähigte, sie bei ihrem Kampf aus dem Sumpf der Verzweiflung zu begleiten. Sie brauchte Worte, die ihr etwas sagten, informative Worte, die ihr dabei halfen, eine Brücke zurück zur Vernunft zu schlagen.
»Schon als er auf Potential deinen Sohn zum erstenmal verkauft hat«, erläuterte Mackern, »hätte ich am liebsten gemeutert, wäre ich damit nicht allein gewesen. War ich nicht so ein Feigling.« Seine Selbstbeurteilung ließ keinen Raum für Courage. »Seit ich mich ihm angeschlossen habe, ist von uns viel Scheußliches begangen worden. Mir kommen davon solche Alpträume, daß ich aus ’m Schlaf hochschrecke und schreie. Aber so was war noch nie da. Einen Menschen hatten wir den Amnion noch nicht verkauft. Ich habe sie gesehen, Morn.« Das stellte er klar, als wäre er der einzige Augenzeuge gewesen. »Diese Mutagene sind ein Greuel. Ihre Wirkung ist…«
Er bebte vor Abscheu am ganzen Leib. Er fand für seinen Widerwillen keine passenden Ausdrücke. »Du hast recht. Jeder von uns könnte der nächste sein. Ich dachte also: Das kann ich nicht mitmachen. Ich mußte dagegen was unternehmen, und wenn’s allein gewesen war und er mich deswegen getötet hätte. Aber du hast mich davor bewahrt. Du hast mir das Leben gerettet, Morn.« Er sprach über sich die Wahrheit: Morn merkte es ihm an. Die Schweißigkeit seines Gesichts und die bange Gehetztheit in den Augen verdeutlichten unmißverständlich seine Ehrlichkeit. »Du hast Davies selber rausgehauen. Danach war ich alles für dich zu tun bereit, buchstäblich alles, du hättest bloß zu fragen brauchen. Ich erhielt aber keine Gelegenheit. Er hat dich freigelassen. Er benahm sich… Ihr beide seid aufgetreten, als ob ihr die Sache zusammen geplant gehabt hättet, wäre alles nur ’n raffinierter Trick gewesen, ’ne List, um von Potential zu verduften. Du hast mich total durcheinandergebracht, so daß ich nicht wußte, ob ich froh oder entsetzt sein sollte.«
Eisern behielt er seinen Flüsterton bei. »Ich wäre gerne froh gewesen. Du hattest mir die Möglichkeit gegeben, auch künftig für ihn tätig sein zu können. Durch dich konnte ich mir einbilden, selbst er hätte Hemmungen, würde nicht bedenkenlos jede Art von Verbrechen begehen. Aber ich hatte schon Sorge, eben das könnte sein wahrer Trick sein, der wirkliche Betrug darin liegen, daß er vortäuscht, ihr beide hättet alles gemeinsam geplant. Daß er in Wahrheit keine Hemmungen kennt. Ich habe mir gedacht: Wenn er keine hat, zahlt Morn für ihren und Davies’ Schutz einen schrecklichen Preis. Und als wir uns dem Kriegsschiff näherten, hab ich schließlich die Tatsachen erfahren. Ich kann’s nicht ertragen. Das ist alles. Ich kann es schlicht und einfach unmöglich mitmachen. Ich will dir helfen. Das ist das einzige, was ich tun kann.«
Es gelang: Während er sprach, schuf er für Morn Bindeglieder, Stege über die weite Leere ihres Verlusts. Aus den Tiefen ihrer Erinnerungen drängten weitere Kenntnisse empor, ihr Bewußtsein strickte ihr Verständnis neu. Trotzdem ergab Mackerns Anwesenheit in ihrer Kabine noch immer keinen Sinn für Morn.
»Wieso?« fragte sie noch einmal. »Was soll es denn mir nutzen, wenn er dich umbringt?«
»Morn.« Betroffenheit verzerrte seine Miene. »Hast du’s vergessen? Hat er dich derartig mißhandelt, daß du dich nicht mehr entsinnst? Er will ihnen deinen Sohn ausliefern. Er hat vor, ihnen Davies in einer Kosmokapsel zuzuschießen. Schon in…« – sein Blick erhaschte das Chronometer, kehrt zurück – »einundzwanzig Minuten.«
Das war es: Damit reichte er ihr den Schlüssel zum völligen Verstehen,
Weitere Kostenlose Bücher