Amok: Thriller (German Edition)
Gegenwart zurück. »Ich hole Ihnen die Adresse.«
Als er die Wohnzimmertür öffnete, erhaschte Julia einen Blick auf zwei Jungen, die sich am Boden rangelten. Ein älteres Mädchen tänzelte um sie herum, schwang die Fäuste und feuerte sie an: »Kämpfen, kämpfen, kämpfen!«
Gordon kehrte mit Notizblock und Stift zurück. »Es ist eine Mietwohnung in Brighton«, erklärte er, als er die Adresse aufschrieb.
»Besuchen Sie sie ab und zu?«
»Ein- oder zweimal die Woche.« Fast verschämt setzte er hinzu: »Sie macht nie die Tür auf.«
»Warum nicht? Sie haben ihr doch nichts getan.«
»Ich war nicht da an dem Tag, als es passierte. Ich war das ganze Wochenende auf einem verdammten Junggesellenabschied – ausgerechnet. Ich glaube, sie wird es mir nie verzeihen, dass ich sie mit dieser Situation alleingelassen habe. Das ist ja schließlich meine Rolle, nicht wahr? Ehemann und Vater. Von mir wird erwartet, dass ich meine Familie beschütze.«
Aber es ist ihnen ja gar nichts passiert , hätte Julia beinahe gesagt. Sie wusste, dass Alices Reaktion nichts mit Logik oder Vernunft zu tun hatte. Gordon wusste es wahrscheinlich auch.
Ein Schluchzer entrang sich seiner Kehle. Verlegen riss er den Zettel aus dem Notizblock und hielt ihn ihr hin. »Sagen Sie ihr, dass sie uns fehlt«, bat er sie. »Sagen Sie ihr, sie soll nach Hause kommen.«
Das Summen der Türsprechanlage weckte ihn zu einer unchristlichen Stunde. Toby ignorierte es, aber dann klingelte sein Handy. Sein Geschäftstelefon, was den Kreis der möglichen Anrufer etwas reduzierte.
Fluchend schlug er die Decke zurück und rieb sich die Augen. Nach einem Blick auf das Display des Handys fluchte er noch einmal und stand auf, um den Türdrücker zu betätigen. Eine wohlbekannte Stimme knurrte: »Du hast ungefähr dreißig Sekunden Zeit, dich präsentabel zu machen.«
Er schlüpfte in Jogginghose und T-Shirt und versuchte gerade, seine Haare mit Wasser zu bändigen, als Vilner an die Tür klopfte. Toby wohnte in Chelsea Harbour, in einem Luxusapartment im sechsten Stock. Vor fünf Jahren hatte es eine glatte Million Pfund gekostet, aber der Wertzuwachs betrug inzwischen schon fast fünfzig Prozent.
Er öffnete die Tür. Vilner war allein. Er wirkte taufrisch, entspannt und bedenklich gut gelaunt. Zu Jeans und einem weißen Hemd trug er eine Wildlederjacke. Er grinste, als er Toby sah.
»Bist nicht gerade ein Morgenmensch, wie?«
»Nein. Was willst du?«
»Kaffee wäre nicht schlecht für den Anfang.«
Toby zog eine finstere Miene, sagte aber nichts. Vilner folgte ihm ins Wohnzimmer, wo er so tat, als bewundere er die Wohnung. Angezogen von der Aussicht, schlenderte er zur Balkontür und blickte hinaus auf die Marina und die Themse im Hintergrund. Toby ging durch in die Küche, setzte Wasser auf und kramte eine alte Dose Instantkaffee hervor. Für Vilner würde er keinen frischen Filterkaffee kochen. Als er ins Wohnzimmer zurückkam, stieß Vilner einen langgezogenen Pfiff aus.
»So lebt ihr reichen Knaben also? Bisschen sehr viel anders als die Gegend, in der ich groß geworden bin.«
»Dass du überhaupt noch gehen kannst, bei den ganzen Komplexen, die du mit dir rumschleppst.«
Vilner funkelte ihn wütend an, dann rang er sich ein Lächeln ab. Seine Augen wanderten im Zimmer umher und blieben an dem einen Gegenstand hängen, der ein wenig fehl am Platz wirkte – einem kleinen Papierstapel auf dem Boden.
»Zufällig bin ich in sehr bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen«, sagte Toby rasch. »Meine Mutter hatte nie Geld. Meine Tante und mein Onkel haben ihr Hilfe angeboten, aber sie hat sie nicht immer angenommen.«
»Warum nicht?« Vilner schlenderte auf das Dokument zu.
»Ihr Lebensstil hat ihnen nicht gepasst. Es waren immer Bedingungen damit verknüpft. Manchmal war sie nicht bereit, sie zu erfüllen.«
»Und du hast dann darunter leiden müssen?« Vilner beugte sich vor und inspizierte die Titelseite.
»Nicht direkt«, erwiderte Toby und fügte selbstgefällig hinzu: »Nicht, nachdem sie mich aufs Internat geschickt hatten.«
Aber Vilner hörte ihm schon nicht mehr zu. Er bückte sich ein wenig umständlich und hob den Bericht auf. Den Bericht, von dem Toby geschworen hatte, dass er ihn keinem Menschen zeigen würde.
»Wo hast du das her?«
»Von George. Irgendjemand hat es ihm zugespielt.«
Vilner setzte ein triumphierendes Grinsen auf. »Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mal einen Blick reinwerfe?«
»Nur zu.« Er
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