An einem Tag im Januar
nicht mehr Fleisch und Blut. Er lebt nicht. Er ist nur noch Geist – und für den, der die Bedürfnisse des Körpers abgestreift hat, gelten andere Regeln. Für Brendan gibt es jetzt nur noch Erinnerung, Gefühl und Traum. Er kennt weder Kälte noch Hitze noch Schmerzen. Die Zeit existiert nicht für ihn – nicht Zeit, wie wir sie kennen.
Stellen Sie es sich so vor, als würde er schlafen, die meiste Zeit jedenfalls. Aber er schläft unruhig, und manchmal wacht er auf, und dann – ja, dann erfasst ihn Unrast. Der Frieden lockt ihn. Die große Ruhe, die auf ihn wartet. Stimmen wie die Ihrer Mutter – vertraute und ihm doch unbekannte Stimmen, die aus dem nächsten Leben nach ihm rufen.«
Marks Augen füllten sich mit Tränen.
»Doch zur gleichen Zeit nimmt Brendan auch Sie wahr. Sie beide, seine Eltern, von denen er sein Wesen hat, rufen nach ihm, deshalb fängt auch er an zu rufen.« Trudys Hände schienen immer wärmer zu werden. »Das ist das Problem. Er träumt; er vermisst euch. Ihr seid am Leben, und ihr träumt und vermisst ihn. Eure Träume rufen ihn, sie wecken ihn, und dann ruft er in euren Träumen nach euch und weckt euch. Jeder nimmt den Hörer sozusagen in dem Moment ab, in dem der andere auflegt.«
Wären ihre trockenen, warmen Handflächen nicht gewesen, hätte er glauben können, sie sei selbst nur noch Geist.
»Können Sie ihm helfen?«, fragte er. »Was müssen wir tun?«
Ob er im Fernsehen oder im Kino schon einmal eine Séance gesehen habe, wollte sie wissen, ihre Stimme jetzt ruhiger, gedämpft.
Er bejahte.
Die Sitzung, die sie abhalten würde, werde ganz ähnlich sein. Er, Chloe, Connie und Jacob würden sich mit ihr und Warren in dem Haus in der Locust Avenue versammeln …
»Auch der Junge?«, fragte Mark erschrocken.
»Jacob Pelham ist ein Anlaufpunkt für Brendan. Brendan vertraut ihm, er kommt zu ihm. Jacob muss uns helfen. Ich habe mit seiner Mutter gesprochen, und er ist bereit dazu.«
Als Nächstes, erklärte Trudy weiter, würden alle Versammelten mittels Konzentration und Gebet versuchen, Brendan von dort, wo er war, herbeizurufen. Ihn zu wecken. Dann könne es sein, dass Brendan sprach. Am wahrscheinlichsten sei es, dass er durch sie, Trudy, sprach. Mit ihrer Stimme.
Das sei etwas, sagte sie, das für die Eltern oft schwer zu akzeptieren sei. »Aber es wird Brendan sein«, sagte sie. »Sie können Ihre Worte an mich richten, und Brendan wird Ihre Stimme hören, auch wenn er in meiner antwortet.«
»Und was passiert dann?«
»Dann sagen wir ihm die Worte, auf die er wartet. Wir schicken ihn heim.«
Sie sah in Richtung der Verbindungstür zur Küche. Durch das Prasseln des Feuers klang Chloes Stimme zu ihnen herüber.
Trudy flüsterte: »Mark. Es gibt noch einen Grund, warum ich Sie allein sprechen musste.
Eltern und Kinder sind eng miteinander verbunden. Aber das Band zwischen einem Kind und seiner Mutter ist ein anderes als das zwischen ihm und dem Vater. Mütter tragen ihr Kind in ihrem Schoß, sie bringen es zur Welt, sie kennen es in- und auswendig. Deshalb fällt es Chloe auch leichter, Brendan zu spüren. Wahrscheinlich hat Chloe schon von Anfang an instinktiv die Wahrheit gewusst. Und das wird sie auch in Zukunft.« Sie umfasste Marks Unterarm. »Das bedeutet, dass auf Sie und Chloe jetzt sehr unterschiedliche Aufgaben zukommen.
Ich kann mir vorstellen, warum Brendan nach Ihnen verlangt. Sie waren immer der, der für Ordnung gesorgt hat, das weiß ich von Chloe. Sie haben ihn zurück ins Bett gebracht, Sie haben die Ungeheuer verscheucht. Sie waren es, der ihn bestraft hat und der ihm dann verziehen hat.«
Marks Gesichtsfeld verengte sich zu einem Nadelöhr.
»Er kann die offene Tür sehen, Mark. Er hört die Stimmen auf der anderen Seite. Aber er fürchtet sich noch.
Tief innen drin ruft Brendan nach Ihnen, weil er weiß, dass Sie ihm sagen werden, was er tun soll. Weil er mit dem Teil von uns, der uralt und weise ist – in dem noch die Stimme Gottes und die Erinnerung an ihn nachklingt –, weiß: Dafür sind Väter da.
Mütter lehren ihr Kind, wie es in die Welt hineingehen und in ihr wachsen muss. Aber die Väter sind näher am Tod. Väter lehren uns, wie man kämpft. Wie man stirbt.
Mark«, flüsterte Trudy. »Chloe ist bis jetzt sehr tapfer gewesen. Aber die Sitzung wird furchtbar für sie sein. Im Moment denkt sie nur an das Gute, das sie bewirken wird – was ja ganz natürlich ist. Sie hat ihr Kind in den Armen halten und es wieder liebhaben
Weitere Kostenlose Bücher