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An einem Tag im Winter

An einem Tag im Winter

Titel: An einem Tag im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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schon in Ordnung. Ich war ja auch unverschämt spät dran.«
    Â»Hast du mich vermisst, India?«
    Â»Ganz ungeheuer.«
    Â»Lügnerin. Ich kenne ein tolles Restaurant bei einer Wassermühle. Dort trifft man immer irgendwelche berühmten Leute – Schauspieler und Politiker. Ich habe uns einen Tisch bestellt.«
    Â»Ziemlich vermessen von dir, Marcus.«
    Â»Wenn du mir einen Korb gibst, muss ich irgendeinen staubtrockenen Kollegen fragen. Ich hoffe, du hast Mitleid mit mir.«
    Sie aßen in einem verglasten Wintergarten unter Topfpalmen, die in Messingkübeln auf dem schwarz-weißen Fliesenboden verteilt standen. Draußen beleuchteten Laternen eine Rasenfläche, an deren Ende ein Mühlteich lag.
    India hatte einen wahren Bärenhunger. Sie aß ihren Teller bis auf den letzten Bissen leer und hätte ihn hinterher am liebsten noch abgeleckt. Der Kellner schenkte ihr eine zweite Tasse Kaffee ein und brachte auf Marcus’ Bitte noch eine Platte mit Petits Fours.
    Â»Ich habe mir die ganze Zeit Sorgen um dich gemacht«, sagte Marcus.
    Â»Das glaube ich dir wirklich nicht.« Sie lächelte. »Du bist kein Mensch, der sich Sorgen macht.«
    Â»Ich sorge mich ständig um irgendetwas. Ob ich aus dieser oder jener Organisation ein Forschungsstipendium herauskitzeln kann, ob ich es schaffe, während eines besonders öden Vortrags wach zu bleiben. Und um dich sorge ich mich, India. Du brauchst jemanden, der sich um dich kümmert.«
    Â»Dazu habe ich Vater und Mutter.« Sie schob einen Miniwindbeutel in den Mund. »Das weißt du doch.«
    Â»Ja, natürlich.« Pharoah nahm sein Zigarettenetui heraus und hielt es ihr hin. Er gab ihr Feuer, und sie beugte sich vor, die Hand um die Flamme gekrümmt.
    Â»Was fehlt eigentlich deinem Bruder?«, fragte er unerwartet.
    Â»Sebastian?«
    Â»Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber da ist doch etwas nicht in Ordnung, das merkt man.«
    Â»Sebastian hatte einen Nervenzusammenbruch«, erklärte sie, weil sie keinen Grund sah, es zu verschweigen. »Als Kind, als wir im Internat waren.« Es war Krieg gewesen, und Rachel hatte im Versorgungsministerium gearbeitet und viel reisen müssen. Deshalb das Internat. Es war damals sicherlich als gute Lösung erschienen.
    Pharoah schob ihr den Aschenbecher zu. »Und wie kam es dazu?«
    Â»Sebastian ist ausgerissen. Natürlich haben sie ihn gefunden und ins Internat zurückgebracht. Aber am Ende musste er nach Hause zu Tante Rachel.«
    Â»Und eure Eltern –«
    Â»Die hatten keine Zeit«, sagte sie hastig.
    Â»War er in Behandlung?«
    Â»Bei einem Psychiater, meinst du? Ja, bei mehreren. Eine Frau war wirklich nett, Sebastian mochte sie, und sie schien ihm auch zu helfen.«
    Â»Und –« Er brach stirnrunzelnd ab und klopfte mit dem Mundstück seiner Zigarette auf den Tisch.
    Â»Was, Marcus?« Sie musterte ihn kühl. »Sebastian ist nicht gefährlich, falls du das fürchten solltest.«
    Â»Nein, natürlich nicht. Er wirkt sehr sanft.«
    Â»Ist er auch. Er ist der liebste Mensch auf der Welt. Ich würde alles für ihn tun.«
    Â»Deine Loyalität macht dir Ehre. Aber eigentlich – ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel – wollte ich fragen, ob du selbst etwas Ähnliches erlebt hast?«
    Â»Du meinst, ob ich einen Nervenzusammenbruch gehabt habe?« Sie lachte so laut, dass die Leute am Nebentisch sich umdrehten. »Nein.«
    Â»Manche Mediziner sind der Auffassung, dass solche nervösen Erkrankungen erblich sind, dass sie in der Familie liegen, aber davon bin ich nicht überzeugt. Meiner Meinung nach spielt da persönliche Erfahrung eine große Rolle. Wenn also dein Bruder beispielsweise das Internatsleben als zu belastend empfunden hat.«
    Oder wenn er im Garten spielen musste, während seine Mutter tot im Haus lag, dachte sie, doch sie nickte und sagte: »Ja, so wird es gewesen sein.«
    Â»Und jetzt? Wie geht es ihm jetzt?«
    Â»Gut. Jedenfalls die meiste Zeit.«
    Â»Aber du machst dir trotzdem Sorgen um ihn.«
    Dass er das bemerkt hatte, überraschte und beeindruckte sie. »Ich möchte nur nicht, dass er wieder krank wird. Er regt sich so leicht auf – über Bettler auf der Straße, über einen bevorstehenden Atomkrieg, alles Mögliche eben. Ich denke nie über solche Sachen nach. Wozu auch? Ich kann sowieso

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