An hoechster Stelle
Leben verloren, obwohl er selbst Protestant war.
Beständig hatte er das Bild dieser alten Frau, die ihn rückhaltlos geliebt hatte, vor Augen gehabt. Selbst jetzt noch wurde ihm bei der Erinnerung die Kehle eng und zornige Tränen stiegen ihm in die Augen.
Er erreichte London um fünf Uhr, fuhr weiter bis nach Kilburn und parkte vor einem Pub namens Michael Collins. Das Bild an der Hauswand – eine irische Trikolore und Collins mit kämpferisch erhobener Waffe — sprach für sich selbst. Er ging jedoch nicht in den Schankraum, sondern um das Haus herum in den Hinterhof und öffnete die Küchentür. Im Wohnzimmer saß ein kleiner grauhaariger Mann an einem Tisch, der eine Lesebrille auf der Nase hatte und einige Rechnungen kontrollierte. Doch Liam Moran war nicht nur Wirt, sondern betätigte sich nebenbei auch als Organisator für die Sinn Fein in London.
»Herrgott, Jack«, keuchte er erschrocken, »du bist das.«
»Höchstpersönlich.« Barry ging zur Anrichte, öffnete eine Flasche Whiskey und schenkte sich ein. »Viel los im Moment?«
»Ach was, alles dreht sich nur noch um den Friedensprozess. Die Briten halten Ruhe, und die Jungs machen es genauso. Was zur Hölle treibst du hier, Jack?«
»Keine Sorge, bin bloß auf der Durchreise«, log Barry.
»Will nach Deutschland und hab gedacht, ich schaue mal kurz rein, um zu sehen, wie die allgemeine Lage so ist.«
»Total ruhig, Jack, kannst mir glauben«, versicherte Moran, den dieser plötzliche Besuch mehr als nervös machte, hastig.
»Frieden, Liam.« Barry kippte seinen Whiskey hinunter. »Wie langweilig. Wir bleiben in Verbindung.« Damit verschwand er wieder.
Acht
Im Londoner Kilburn District leben hauptsächlich Iren, Republikaner wie Unionisten, und manchmal könnte man glauben, in Belfast zu sein. Die protestantischen Pubs, geschmückt mit Bildern von William und Mary, sehen genauso aus wie die in der Shankhill Road, und die republikanischen Pubs gleichen denen in der Falls Road.
Dillon, der eine schwarze Bomberjacke, einen Schal und Jeans trug, mischte sich unter die Gäste eines republikanischen Pubs. Dass ihn möglicherweise irgendjemand erkannte, ließ sich nicht vermeiden, aber darum machte er sich keine Gedanken. Immerhin war er der große Sean Dillon, die lebende Legende der IRA, und alles Übrige waren bestenfalls Gerüchte. Außerdem hatte er, sozusagen als Rückversicherung, seine Walther im Hosenbund.
Er erfuhr jedoch nichts, was für ihn von irgendeinem besonderen Interesse gewesen wäre, bis er aus dem ›Green Tinker‹ kam und sich neben einem Zeitungskiosk eine Zigarette anzündete. Der alte Mann, der darin kauerte, hieß Tod Ahern. Er nahm gerade einen Schluck aus einer Flasche, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und starrte Dillon verblüfft an.
»Herrgott, Sean, du bist das!«
»Wer sonst?«
Tod war schon ziemlich betrunken. »Ist da irgendwas Wichtiges im Gang? Ich habe vorhin Barry gesehen. Seid ihr beiden hier, um was auszuhecken?«
Dillon lächelte freundlich. »Tod, über solche Sachen redet man nicht. Maulhalten heißt die Parole. Jack wäre ziemlich sauer, wenn er wüsste, dass du ihn gesehen hast. Wo war das denn?«
»Er ging hinten in den Hof vom ›Michael Collins‹. Ich dachte, er trifft sich vielleicht mit Liam Moran. Ich hatte gerade meinen Kiosk aufgemacht.«
»Na, behalt’s für dich, Tod.« Dillon reichte ihm eine Fünfpfundnote. »Trink nachher einen auf mich.«
Liam Moran saß noch immer am Tisch über seinen Rechnungen und schaute entgeistert auf, als Dillon die Tür öffnete und sich in aller Seelenruhe eine Zigarette anzündete.
»Gott segne alle hier.«
Moran hätte sich fast in die Hose gemacht. »Sean, du?«
»Jawohl. Ich hab gehört, du hast vorhin Besuch gehabt – von Jack Barry?«
Moran brachte ein gequältes Lächeln zustande. »Wer erzählt denn so einen Blödsinn?«
Dillon seufzte. »Wir können uns nett miteinander unterhalten, Liam, aber es geht auch anders. Was hat er gewollt und wo ist er?«
»Sean, das ist ein schlechter Scherz.«
Mit einer blitzschnellen Bewegung riss Dillon die Walther aus seinem Hosenbund und einen Sekundenbruchteil später war Morans rechtes Ohrläppchen zerfetzt. Zitternd drückte der Wirt seine Hand an den Kopf, um das Blut zu stillen.
»Als Nächstes kommt deine rechte Kniescheibe dran. Ich sorge dafür, dass du auf Krücken
Weitere Kostenlose Bücher