Ana Veloso
was war denn nun schon wieder passiert? Sie erhob sich schwerfällig von
dem Stuhl, auf dem sie antriebslos gesessen und gehofft hatte, dass ihr Kopf
Ruhe gab. Im Hof standen zwei Kutschen, um die sich mehrere Sklaven geschart
hatten. Eine davon war ihre, die andere war Vitória unbekannt. Wegen der
verschlossenen Verdecke sowie der neugierigen Schwarzen, die ihr die Sicht
verstellten, erkannte sie nicht gleich, wer die Passagiere waren. Ach, Miranda
würde sie ihr schon melden. Vitória sank wieder auf den Stuhl und stützte ihren
Kopf auf die Hände. Die zwei Minuten Schonfrist, bis die Ankömmlinge ihre
Regenmäntel abgelegt hatten, würde sie voll ausschöpfen.
»Sinhá Vitória, es sind Besucher gekommen.«
Miranda verschränkte die Hände hinter dem Rücken und hielt den Kopf gesenkt.
»Wer ist es? Haben sie keine Namen genannt?«
Miranda zuckte mit den Schultern und sah zu
Boden.
Was für eine blöde Gans! Was war nur in das Mädchen
gefahren, dass es sich fast schon wieder so einfältig wie zu Beginn seiner
Dienstzeit gab? Dass Besuch gekommen war, hatte sie schließlich selbst schon
registriert.
Vitória gab sich einen Ruck und ging zur
Eingangshalle. Zwei Männer warteten dort auf sie. Einer davon schien so in die
Betrachtung eines Gemäldes vertieft, dass er ihr Kommen nicht bemerkt hatte.
Sie sah ihn sich gar nicht genauer an, denn schon kam der andere auf sie zu, lächelte
sie breit an und zerquetschte ihr beinahe die Hand.
»Sie müssen Senhorita Vitória sein, sehr
erfreut. Ich bin Getúlio Amado. Ihr Vater erwartet mich.«
»Herzlich willkommen, Senhor Amado. Ja, wir
haben mit Ihnen gerechnet – allerdings noch nicht so schnell, denn unserem
Kutscher war ein kleines Missgeschick passiert, sodass er nicht rechtzeitig am
Bahnhof sein konnte.«
»Halb so schlimm. Ich hatte das Glück, im Zug
die Bekanntschaft eines Herrn zu machen, der in dieselbe Richtung wollte und
der mich in seiner Kutsche mitgenommen hat. Unterwegs ist uns Ihr Wagen
entgegengekommen. Darf ich vorstellen«, sagte er und zeigte dabei auf seinen
Begleiter, der sich langsam umdrehte, »Senhor León Castro.«
Vitória fiel vor Schreck fast um. Aber sie
sammelte sich schnell. »León, wie freundlich von Ihnen, unseren Gast hierher zu
begleiten.«
»Es war mir ein großes Vergnügen.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen. Sie sind ja für
Überraschungen dieser Art bekannt.«
Vitória bat beide Herren in den Salon und
entschuldigte sich, um ihren Vater zu rufen. Vor dem Spiegel in der Halle blieb
sie stehen, nahm die Brille ab und richtete ihr Haar mit den Fingern. Dieser
Unmensch! Wenn sie nicht genau gewusst hätte, dass José wirklich im Schlamm
stecken geblieben war, hätte sie geglaubt, dass León das alles inszeniert
hatte, nur um sie zu ärgern.
Nachdem sie ihren Vater im Kaffeelager aufgestöbert
und er sich zu den Gästen gesellt hatte, lief Vitória auf ihr Zimmer, um zu
sehen, was sich an ihrem unmöglichen Aufzug noch retten ließe. Umziehen konnte
sie sich ja schlecht, das wäre aufgefallen, aber wenigstens konnte sie ihr Haar
kämmen, etwas Schmuck anlegen und ein wenig Rouge auftragen. Sie legte ein
hauchzartes, hellblaues Chiffontuch um ihre Schultern, um von der Tristesse
ihres grauen Kleides abzulenken. Ja, so würde es gehen. Sie tupfte sich einige
Tropfen Rosenessenz hinter die Ohren und auf den Hals und ging, als es sich
nicht länger hinauszögern ließ, wieder nach unten. Ihr Kopfweh hatte sie
vollkommen vergessen.
Die drei Männer tranken Portwein und schienen
sich glänzend zu unterhalten. Offenbar war Senhor Getúlio noch immer bei seiner
Schilderung der unglaublichen Häufung von Zufällen, die ihm nicht nur die
Bekanntschaft des berühmten Herrn Castro beschert hatten, sondern auch eine
halsbrecherische Fahrt durch die aufgeweichte Erde des Vale. In diesem Tempo,
das schwor er beim Grab seiner Mutter und bei allen Heiligen, war er noch nie
durch metertiefe Pfützen und über abgeknickte Aste geholpert.
In der nächsten halben Stunde war Getúlio Amado
der Einzige, der sprach. Sein Redefluss war kaum zu stoppen, und Vitória erfuhr
mehr über das Leben des Mannes, als sie jemals hätte wissen wollen. Als die
Standuhr zwölf schlug, wurde er endlich von ihrem Vater unterbrochen.
»Wir sollten uns jetzt unseren Geschäften
widmen. Wenn wir uns beeilen, haben wir das Wichtigste noch vor dem Mittagessen
geregelt. Wenn Sie erlauben.« Er erhob sich und wandte sich León zu. »Sie
bleiben doch bestimmt
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