Ana Veloso
hatte er sich einer Frau so
bedingungslos ausgeliefert, und sie musste doch sehen, dass es ihm ernst war.
Wie konnte sie ihn derart brutal zurückweisen?
»Was ist passiert, Vita? Erzähl mir, wie du so
werden konntest, wie du heute bist.«
Sie drehte sich zum Fenster herum und wandte ihm
den Rücken zu. Er rührte sich nicht, ja, er hielt sogar den Atem an. Er unterdrückte
den Impuls, sie an der Taille zu umfassen und an sich zu ziehen, ihre
Schulterblätter zu küssen, ihren Hals zu streicheln. »Weißt du, León, ich kann
deine verlogenen Fragen nicht ertragen. Ich glaube, es wäre das Beste, wenn du
gleich nach dem Essen aufbrichst und dich nie wieder hier blicken lässt.«
Doch den Gefallen tat León ihr nicht. Zwei Tage
nach der kurzen Begegnung, die Vitória ihre ganze Seelenruhe gekostet hatte,
bat ihr Vater sie in sein Arbeitszimmer. Er saß an seinem Sekretär, auf dem
sich Aktenberge türmten, rauchte eine Zigarre und hob den Kopf erst von seinen
Papieren, als Vitória längst saß und sich räusperte. Er zupfte sich am Ohrläppchen
und fragte sie, ob sie einen Brandy wolle.
»Ich habe Ihnen doch schon mehrfach erklärt,
dass ich nicht trinke. Was ist es denn, was Sie mir mitteilen wollen und von
dem Sie glauben, dass ich es unter Alkoholeinfluss besser aufnehme?«
»Vita, du
wirst demnächst zwanzig Jahre alt.«
»Das ist in der Tat erschreckend.«
»Und für eine junge Frau dieses Alters kann es
nicht mehr wünschenswert sein, mit den Eltern unter einem Dach zu leben.«
»Legen
Sie keinen Wert mehr auf meine Gegenwart?«
»Doch. Das heißt, streng genommen: Nein.« Senhor
Eduardo fuhr sich durch seinen vollen, grauen Bart. »Deine Mutter und ich haben
dir schon oft gesagt, dass wir dich endlich verheiratet sehen wollen. Du hast
bisher alle Verehrer abgewiesen, die wir uns als Schwiegersohn erhofft hätten,
und ich würde dich schon gar nicht mehr mit dem Thema belästigen, wenn nun
nicht eine unvorhergesehene Situation aufgetreten wäre.«
»Ach?«
»Ja. Senhor Castro, dem ich gestern noch einmal
im Haus der Campos begegnet bin, hat mich um eine Unterredung gebeten. Ich traf
ihn heute Nachmittag. Er deutete sein Interesse an deiner Person an.«
Vitória konnte es nicht glauben. Wie hatte León
das bewerkstelligt? Wie hatte er den größten Fazendeiro des Vale do Paraíba so
für sich einnehmen können, dass der ihm erlauben wollte, seiner Tochter
offiziell den Hof zu machen?
»Weiß Dona Alma von dieser Unterredung?«
»Nein. Aber ich werde sie davon überzeugen, dass
León Castro durchaus nicht mehr der Mann ist, der er noch vor ein paar Jahren
war. Ich weiß, dass du diesen Mann ... ähm ... magst. Und nach meinem Gespräch
mit ihm muss ich sagen, dass ich ihn auch gar nicht so schlecht finde. Er ist
sehr gebildet, sehr kultiviert, er sieht gut aus, und er hat eine beachtliche
Karriere gemacht. Er wird inzwischen sogar bei Hofe geschätzt.«
»Und er ist arm wie eine Kirchenmaus!«
»Aber ganz und gar nicht. Er besitzt zwei
florierende Fazendas, und seine Schreiberei ist, seit sein Ruhm so gewachsen
ist, ebenfalls sehr einträglich.«
Vitória wunderte sich. León? Reich?
»Pai, Sie irren sich. Ich mag diesen León Castro
nicht. Mehr noch: Ich hasse ihn. Außerdem bin ich mir sicher, dass er nicht
mehr Vermögen besitzt als Afonso Soares. Bestimmt hat er sich nur einer List
bedient, um an meine Mitgift heranzukommen.«
»Es tut mir Leid, Vita, dass du das so siehst.
Denk noch einmal darüber nach. Und zeige ihm deine Abneigung nicht allzu
deutlich – ich habe ihn für heute Abend zum Essen eingeladen.«
»Pai! Wie konnten Sie? Sie hätten mich vorher
fragen müssen!« Vitória verließ das Schreibzimmer und knallte die Tür hinter
sich zu. Das war ja wohl die Höhe! Ihr eigener Vater wollte sie an einen Schuft
wie diesen verschachern, vor lauter Angst, sie würde sonst keinen Mann mehr
abbekommen! Und León, dieser unsensible Wüstling, der sie schon bei der ersten
Begegnung nach so langer Zeit mit Verlockungen zu ködern versuchte, die ihr
gestohlen bleiben konnten! Sie hatte einen hohen Preis für die eine Nacht mit
ihm bezahlt, und sie hatte nicht vor, einen so schrecklichen Fehler zu
wiederholen. Und überhaupt: Warum hatte er sich erst jetzt dazu entschlossen,
um ihre Hand anzuhalten? Schämte er sich nicht, ihr gegenüberzutreten, nach
allem, was er ihr angetan hatte?
Wie konnte er ihr noch in die Augen sehen, der
feige Lügner? Und was für eine Kaltblütigkeit, ihren
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