Ana Veloso
von
Hoffnungslosigkeit gelegen.
»Die Vieiras sind fortgezogen«, fuhr Dona Alma
fort, »die Fazenda der Leite Corrêias ist völlig verwahrlost. All unsere
Freunde und Nachbarn haben das Tal verlassen, wie Ratten das sinkende Schiff.
Was in Gottes Namen sollen wir deiner Meinung nach auf Boavista tun?«
»Hier in Rio pflegen Sie, wenn mich nicht alles
täuscht, auch kaum soziale Kontakte. Auf Boavista könnten Sie ebenso gut im
Bett liegen wie hier. Wo also wäre der Unterschied?«
»Ich wusste gar nicht, wie boshaft du bist. Oder
hat dich erst deine unglückliche, kinderlose Ehe so werden lassen?«
Das, dachte Vitória, war wieder typisch für ihre
Mutter. Immer wenn ihr die Argumente ausgingen, wich sie vom Thema ab. Seit
ihre Eltern in Rio waren, hatte ihre Mutter permanent an ihr herumgekrittelt,
und am liebsten sprach sie dabei über Vitórias und Leóns Kinderlosigkeit.
Mehrmals täglich rieb sie sie Vitória unter die Nase, und immer gab sie Vitória
zu verstehen, dass die Verantwortung dafür einzig bei ihr lag, die unfähig war,
ihren Mann glücklich zu machen.
»Falls Sie sich auf den Umstand beziehen, dass
León so gut wie nie zu Hause ist, sollten Sie die Schuld vielleicht bei sich
selber suchen. Ich an seiner Stelle würde ebenfalls einen großen Bogen um
dieses Haus machen. Mir selber bleibt als treusorgender Tochter ja nichts
anderes übrig, als mich um Sie zu kümmern, sonst hätte ich auch schon längst
das Weite gesucht, das können Sie mir glauben! Und da wir gerade bei Ihrem Lieblingsthema
sind: Warum ziehen Sie nicht zu Pedro und Joana und ihrer Kinderschar?«
Auch ihr Bruder und seine Frau hatten keinen
Nachwuchs. Doch während Vitória sich ständig den unerfüllten Wunsch ihrer
Eltern nach Enkeln anhören musste, wurde Pedro damit in Frieden gelassen. Mit
ihrer Versorgerrolle, so schien es, wurde Vitória zugleich die Pflicht übertragen,
den Fortbestand der Familie zu sichern. »Du weißt genau, dass bei Pedro nicht
genügend Platz ist für uns.«
»Und warum sind Sie nicht in das schöne Haus in
Botafogo gezogen, das ich für Sie mieten wollte?«
»Das weißt du ebenfalls ganz genau. Erstens will
dein Vater nicht, dass du unseretwegen noch höhere Ausgaben hast. Und zweitens
würde es kein gutes Licht auf unsere Familie werfen. Sollen die Leute etwa
denken, dass du deine eigenen Eltern nicht erträgst?«
»Lassen Sie doch die Leute denken, was sie
wollen.«
»Dir mag ja dein Ruf egal sein. Nach allem, was
ich von den Damen in der Kirche gehört habe, ist da ohnehin nicht mehr viel zu
retten. Aber dein Vater und ich haben nicht vor, uns schief ansehen zu lassen.«
»Ich bitte Sie, Mãe! Niemand wird Sie schief
ansehen, weil Sie ein eigenes Haus bewohnen. Im Gegenteil, die Damen in der
Kirche würden es gutheißen, wenn Sie nicht mehr das Haus mit Ihrer verderbten
Tochter teilten.« Vitória wusste, dass die Frauen, die ihre Mutter bei ihrem täglichen
Gang zur Kirche kennen gelernt hatte, das Gerücht streuten, sie, Vitória, habe
ein Verhältnis mit Aaron Nogueira. Was für ein Unsinn! Aaron war ihr Anwalt und
ihr Bevollmächtigter bei allen geschäftlichen Transaktionen. Mit einem Mann
verhandelten die anderen Männer nun einmal lieber als mit einer Frau, und bevor
Vitória den zwecklosen Versuch unternahm, sich dagegen aufzulehnen, ließ sie
sich lieber von Aaron vertreten. »Du drehst mir das Wort im Mund um. Was für
eine Tochter bist du nur, dass du uns mit aller Gewalt loswerden willst?«
Das allerdings fragte sich auch Vitória immer öfter.
Hatte ihre Unabhängigkeit sie hart und egoistisch werden lassen? War sie
ungerecht gegenüber den Menschen, denen sie so viel verdankte und die sie von
ganzem Herzen liebte? Wie konnte sie nur ihre kranke Mutter ansehen und dabei
so viel Wut empfinden? Wann waren ihr Mitgefühl, Großzügigkeit und Langmut
abhanden gekommen? Andererseits: Hatte sie nicht ein enormes Opfer allein
dadurch gebracht, dass sie León geheiratet und damit einen Teil des
Familienvermögens gerettet hatte? War ihr Verhalten wirklich so schäbig, wie
ihre Mutter es sie glauben machen wollte? Was war daran so verwerflich, den
Eltern Geld und Personal zu geben und ihnen jede erdenkliche Hilfe zuteil
werden zu lassen, um ihnen ein sorgloses Leben zu ermöglichen? Und war es nicht
vielmehr Dona Almas Bedürfnis, sich inmitten des Geschehens in Rio aufzuhalten,
das verwerflich war? Oder Eduardo da Silvas Selbstbetrug? Ihr Vater erzählte
jedem, dass sie zu einem
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