Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain
dich gekümmert und die Zigaretten vergessen?«
Mit theatralischer Geste holte Damir aus dem Barschrank eine Flasche, Gläser sowie eine Schachtel guter Mentholzigaretten.
»Sieh einer an, er hat es sich gemerkt.« Nastja mußte lächeln. »Wenn man mal die Details außer acht läßt, könnte man wirklich glauben, du seist verliebt.«
»Nastjenka«, Damir nahm sie zärtlich bei der Hand, »womit kann ich dir meine Aufrichtigkeit noch beweisen? Zwei ganze Tage bin ich nun schon hier . . .«
»Drei«, korrigierte Nastja ihn ruhig.
»Wie bitte?«
»Du bist nicht erst zwei Tage hier, sondern drei. Das sind diese kleinen Details, die es mir schwer machen, an deine Aufrichtigkeit zu glauben. Ich frage gar nicht, weshalb du lügst, ich nehme das nur zur Kenntnis. Du bist ein großer Junge, Damir, bald wirst du vierzig, und wenn du lügst, so hat das wahrscheinlich irgendeinen Sinn. Und komm mir jetzt nicht mit irgendwelchen Ausreden. Nimm schlicht zur Kenntnis: Ich glaube dir kein einziges Wort. Doch das hindert mich keineswegs daran, Fragen mit dir zu diskutieren, die gar keine Wahrheitstreue verlangen. Zum Beispiel deine Arbeit. Weißt du, dein Film hat mir gut gefallen. Ich würde ihn gern zu Ende anschauen. Geht das?«
»Das geht schon.« Seine Stimme klang jetzt kalt. »Deine Direktheit bringt mich um. Bist du immer so?«
»Wie meinst du das?«
»Du bist keine Spielerin. Du bist einfach überkorrekt, setzt auch noch das allerletzte Komma. Wahrscheinlich hast du auch keine Freunde?«
»Nein«, pflichtete Nastja ihm bei. »Ich habe einen geliebten Mann, der mir alle Freunde ersetzt, einschließlich der gekauften.«
»Anastasija«, stöhnte Damir. »Du bist unerträglich. Der Teufel muß mich geritten haben, als ich mich für dich zu interessieren begann. Na gut, schau dir den Film zu Ende an, ich geh inzwischen Kaffee kochen.«
Auf dem Bildschirm erlebte der inzwischen erwachsene Enkel die Tragödie der Einsamkeit. »Du hast mir die Gabe der Rede genommen«, warf er seinem Großvater vor. »Ich kann meine Gefühle nicht mehr normal ausdrücken, ich kann sie nur spielen. Ich habe alle Freunde verloren, die Frauen meiden mich, weil ich einen Sprachfehler habe und mich ihnen nur mit Hilfe der Musik verständlich machen kann.« – »Dafür hast du große, unsterbliche Musik geschaffen«, entgegnete der sterbende blinde Großvater. »Ich will das aber nicht! Ich will eine Frau haben, Kinder, Freunde, ich will sein wie alle!« – »Ein Mensch, der große Musik schafft, darf nicht sein wie alle«, erwiderte der Großvater. »Wenn du solch eine Begabung hast, vergiß das gewöhnliche Leben mit seinen Regeln und seinen Albernheiten. Sie gelten nicht für dich. Du bist ein Genie.« Der Großvater entschlummert langsam, während der Enkel an seinem Bett steht und schreit: »Ich will kein Genie sein. Ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht!« Und plötzlich, als er begreift, daß er mit Worten seinen Schmerz nicht ausdrücken kann, seinen Haß auf den Großvater, auf sich selbst, auf die Musik, greift er nach der Geige und beginnt zu spielen. Ende des Films.
Nastja hielt es für eine ganz außergewöhnliche Arbeit. Damir war wirklich begabt, darüber ließ sich schwerlich streiten. Seine musikalischen Fähigkeiten kamen in dem Film voll zur Geltung, und das Sujet war ebenfalls alles andere als gewöhnlich.
»Hat er dir gefallen?« Damir sah ihr ins Gesicht.
»Sehr«, meinte Nastja ganz offen. »Hast du noch etwas?«
»Nein, ich habe nur eine Kassette dabei, ich wollte sie Regina zeigen.«
Interessant, was war dann das, was du ihr noch gezeigt hast? Wegen welchem Film hat sie dich so gnadenlos kritisiert und dich einen Pfuscher geheißen? Wegen diesem hier? Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, dann hast du heute nachmittag ganz bestimmt erklärt, Regina Arkadjewna habe diesen Film noch nicht gesehen. Schon wieder lügst du, Damir Ismailow. Aber ich werde jetzt nicht jedes deiner Worte festnageln und dich der Lüge überführen. Ich bin nicht am Arbeitsplatz. Ich werde dich schon noch drankriegen und dir zeigen, was für ein schlechter Lügner du bist und daß ich dich durchschaue. Und was weiter? Schließlich muß ich mit dir ja keine Pferde stehlen gehen. Wenn du lügen willst – bitte sehr, soviel du willst. Mich stört das nicht.
Dann küßte Damir sie wieder lange und innig, streichelte dabei ihren Rücken und liebkoste zärtlich ihr langes Haar, und wieder ließ Nastja ihr inneres Metronom
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