Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain
einfallen lassen.«
»Also, Mädchen, folgendes.« Wlad blieb einen Moment stehen, dann wanderte er weiter durchs Zimmer hin und her. »Wenn wir bis zum Morgen nicht weg sind, sind wir erledigt. Die Stadt zu verlassen, ist sehr riskant, das geht vielleicht nur noch schlimmer aus. Variante eins – hierbleiben. Dazu müßten wir andere Kleidung anziehen, sowohl du als auch ich. Du in deinem Fünfziger-Jahre-Kleid bist viel zu auffällig. Von mir ganz zu schweigen, ein Zweitklässler in Erwachsenenkleidern. Außerdem brauchen wir noch Geld für Essen und für den Stoff. Bloß hab’ ich nicht den geringsten Schimmer, wo ich ihn beschaffen könnte, ich kenne niemanden in der STADT. Doch wenn wir das Problem mit der Kleidung, dem Geld und dem Stoff hinkriegen, dann besteht eine Chance, daß wir hier rauskommen. Sei jetzt einfach mal fünf Minuten ruhig, ich muß nachdenken.«
Swetlana drückte sich ganz still in eine Ecke des Sofas. O Gott, in was für eine schreckliche Geschichte war sie da hineingeraten! Sie hatte immer noch nicht begriffen, wieso Wlad meinte, daß man sie auf jeden Fall umbringen würde, aber sie glaubte es ihm. Mit so was würde er nicht scherzen. Und wenn man doch zur Polizei ging? Ihnen alles erzählte, wie es war. Dann müßte sie auch zugeben, daß sie eine Prostituierte war und in einem Pornofilm hatte mitmachen wollen. Das galt freilich als Verbrechen, aber sie wäre schließlich geständig, da käme sie um ein Gerichtsverfahren herum. Und Wlad? Auf jeden Fall kämen sie erst mal beide in Haft, selbst wenn sie dann freigesprochen würden. Und seine Drogen bekäme er dort nicht auf dem Tablett serviert. Armer Kleiner! Im Knast geht er bestimmt drauf.
Swetlana überlegte kurz, wo man Geld auftreiben könnte. Die graue Glacelederjacke verkaufen, die Goldkette und den Ring? In diesem Fall wäre es ihr nicht schade drum. Aber nachts, in einer fremden Stadt, und noch dazu unter Zeitdruck? Mehr als ein Drittel des Werts wäre da nicht herauszuschlagen. Sie wußte ja nicht einmal, wo hier nachts die Händler saßen, und ob überhaupt. Man könnte versuchen, auf altgewohnte Weise etwas zu verdienen, doch das Risiko war groß, mit der Mafia, die hier den Strich kontrollierte, aneinanderzugeraten. Dann war endgültig Feierabend. Was tun?
Wlad hielt plötzlich inne.
»Die Stadt, aus der du kommst, kennst du dich da gut aus?« fragte er.
»Natürlich. Ich bin dort aufgewachsen.«
»In wie viele Sektoren ist deine Stadt aufgeteilt?«
»Was für Sektoren?« Swetlana begriff nicht. »Stadtteile, oder was?«
»Wie viele Mafiaclans kontrollieren die Stadt?« fragte er, jede Silbe einzeln betonend.
»Woher soll ich das wissen?« fuhr sie hoch. »Bist du jetzt völlig übergeschnappt?«
»Hör mir zu, Mädchen. In der Stadt, aus der ich komme, sind es vier. Es gibt Städte mit zwei, und einige mit zehn. Kapierst du, worauf ich hinaus will?«
»Nein. Ich kapiere gar nichts.« Sie begann wieder zu schluchzen.
»Wenn wir beide es hier mit einer bestimmten Mafia zu tun haben, dann müssen wir uns nur an die andere wenden. Die werden uns dann garantiert helfen.«
»Wieso sollten die uns helfen?«
»Das ist deren Konkurrenz. Soweit kapiert? Wenn der eine Clan hinter uns her ist, nimmt uns der andere unter seine Fittiche. Bestimmt rechnen sie untereinander ab, aber in diesem Spiel ist jeder Trumpf gut. Und genau zu solch einem Trumpf müssen wir werden. Schlecht ist nur, daß wir beide in dieser STADT hier fremd sind. Die Orientierung ist schwer. Aber man könnte es riskieren. Fangen wir bei der Geographie an. Weißt du noch, wo das Büro liegt, in dem du das Vorstellungsgespräch geführt hast?«
»Nein, ich weiß nicht mal die Adresse. In der Anzeige war ein Postfach angegeben, und auch nicht hier, sondern in einer anderen Stadt. Im Antwortschreiben stand, ich solle hierher kommen, meine Ankunftszeit aber vorher der ersten Adresse melden. Hier wurde ich abgeholt und mit dem Auto zu Semjon gebracht.«
»Hast du dir den Weg gemerkt?«
»Nein. Ich habe überhaupt keinen Orientierungssinn. Zum Schwimmbad haben sie mich abends gefahren, da war es schon dunkel. Und hierher auch abends.«
»Mist. Praktisch null Information. Mich haben sie auch am Flughafen abgeholt und hierher gebracht. Es war zwar morgens, aber den Weg habe ich mir auch nicht gemerkt, wozu auch. Dann versuchen wir eben, auf anderem Wege zu einer Lösung zu kommen.«
* * *
»Wie konnte dir nur so was passieren, Semjon?«
»Ich hatte
Weitere Kostenlose Bücher