Anastasija 07 - Mit tödlichen Folgen
immer wieder auf die Uhr, um den Augenblick nicht zu verpassen, wenn sie Ljoscha anrufen konnte. Von zehn bis dreizehn Uhr dreißig dauerte die Plenarsitzung, dann war bis fünfzehn Uhr Mittagspause. Da würde Ljoscha kaum in seinem Labor auftauchen, er musste mit den Gästen essen. Nach dem Mittagessen ging die Sitzung weiter, bis siebzehn Uhr. Also konnte sie es zwischen Viertel vor sechs und sechs probieren. Wenn nach der Sitzung alle zum Eröffnungsbankett gingen, würde Ljoscha seine Jacke oder seinen Mantel aus dem Labor holen müssen. Es sei denn, er war nur im Anzug ins Institut gegangen. Durchaus möglich bei ihm.
Bis Viertel vor sechs war noch viel Zeit, Nastja konnte also in Ruhe weiter die Informationen über Alina Wasnis, ihr Leben und ihre persönlichen Beziehungen analysieren.
Freundinnen hatte sie nicht. Offenbar tatsächlich nicht. Die Hypothese, dass sie zwar welche hatte, das aber nicht publik machte, konnte Nastja vorerst ad acta legen. Nach den Worten der Stiefmutter zu urteilen, war Alina von Kindheit an allein und verschlossen gewesen.
Gefühlskalt, laut Smulows Einschätzung. Niemand, so die Worte der Regieassistentin Albikowa, hatte je ihre Güte zu spüren bekommen. Sie neigte nicht zu Mitgefühl und Sentiments, das bewies die Geschichte mit Soja Semenzowa. Sie konnte Kränkungen nicht verzeihen und war bereit, sich heimlich zu rächen, das zeigte ihre Reaktion auf die Beleidigungen von Xenija Masurkewitsch, Besessen von Ideen wie Rache und Vergeltung, das ging aus ihren Aufzeichnungen über die Gestalt der Azucena im »Troubadour« hervor.
Keine Neigung zu Affekten, stets kontrolliert. Eine schöne junge Frau, binnen zwei Jahren zum Filmstar geworden, die ihrem Liebhaber Smulow nie den geringsten Anlass zur Eifersucht geliefert hat. Zugleich beschäftigte sie das Problem Schuld, das belegten die Aufzeichnungen zur Gilda. Und sie glaubte nicht sonderlich an Unschuld und Keuschheit, das wurde aus diesen Aufzeichnungen ebenfalls ersichtlich.
Was war sie für ein Mensch? Ein Monstrum, herzlos und zutiefst zynisch?
Nastja warf einen Blick auf die Uhr – halb fünf.
Also, was wissen wir über Alina? Unterentwickelte mündliche Rede. Eine flotte Schreibe.
Ein Tagebuch! Sie muss ein Tagebuch haben! Mein Gott, das liegt doch auf der Hand! Wo ist Korotkow abgeblieben? Ich muss ihn sofort finden.
Aber das war natürlich nicht so einfach. Na schön, sie konnte erst einmal versuchen, sich mit dem Untersuchungsführer zu verständigen. Schade, dass nicht Olschanskij den Mordfall Wasnis bearbeitete, mit ihm kam Nastja meist rasch auf einen gemeinsamen Nenner.
»Boris Vitaljewitsch«, begann sie rasch, als sie Untersuchungsführer Gmyrja endlich erreicht hatte, »die Wohnung der Wasnis muss noch einmal durchsucht werden. Es muss ein Tagebuch geben.«
»Woher hast du diese Information?«, fragte Gmyrja kurz angebunden. Er hielt nichts von »Induktion«, er stützte sich nur auf nackte Tatsachen.
»Ich weiß es einfach. Verstehen Sie, laut Aussagen aller, die die Wasnis kannten, war ihre mündliche Rede unterentwickelt, mit anderen Worten, sie sprach sehr schlecht, stockend, konnte ihre Gedanken nicht klar ausdrücken. Aber ich habe Aufzeichnungen von ihr gelesen, eine Art literarische Essays, und weiß daher, dass ihre schriftliche Ausdrucksweise mehr als gut entwickelt war. Und sie benutzte die Form des Dialogs mit einem unsichtbaren Partner. Verstehen Sie? Ich bin mir sicher, das ist eine Folge jahrelanger Gewohnheit, ein Tagebuch zu führen.«
»Wenn es in der Wohnung Tagebücher gegeben hätte, wären sie von uns beschlagnahmt worden«, antwortete Gmyrja kühl. »Halt nicht alle für Idioten.«
«Boris Vitaljewitsch, verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber die Einsatztruppe war gegen neun Uhr morgens am Tatort, also am Ende eines Vierundzwanzigstundendienst. Da sind alle müde, die Aufmerksamkeit lässt nach, sie könnten etwas übersehen haben. Ich will niemanden kränken, aber . . .«
»Gut«, lenkte Gmyrja plötzlich ein, und Nastja begriff, dass er es eilig hatte und sie schnell loswerden wollte. »Wir fahren gleich morgen früh hin, vor Dienstbeginn.«
»Und heute? Geht es nicht schon heute?«, bat sie schüchtern.
»Heute auf keinen Fall. Schluss, bis morgen. Um sieben Uhr dreißig vor dem Haus der Wasnis.«
Pech, dachte Nastja enttäuscht. Nun muss ich bis morgen warten. Ich könnte natürlich frech sein und ohne Gmyrja hinfahren. Das Dumme ist nur – die
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