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Anastasija 07 - Mit tödlichen Folgen

Anastasija 07 - Mit tödlichen Folgen

Titel: Anastasija 07 - Mit tödlichen Folgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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er betrübt. »Wenn du Argumente gegen deine Theorie suchst, kann ich versuchen, welche zu sammeln. Wenn du willst, rede ich heute noch einmal mit allen und kläre, woher die Information über die Semenzowa und über die Suche nach einem Kontakt zu Kosyrew ursprünglich stammte. Und überhaupt, wer von Smulow was über Alina Wasnis gehört hat und wann. Dann können wir deine Vermutungen entweder bestätigen oder nicht. Mehr fällt mir nicht ein.«
    Nastja lächelte zärtlich.
    »Ich danke dir.«
    Kamenskaja
    Eingeschlossen in ihrem Büro, las sie den ganzen Tag in Alinas Tagebuch. Gmyrja hatte Recht, die Eintragungen bezogen sich nicht auf die letzte Zeit, sie begannen am siebzehnten November dreiundneunzig und endeten am sechsundzwanzigsten März fünfundneunzig. Keinerlei Hinweise auf einen Konflikt mit Smulow. Im Gegenteil, jedes Wort, das Alina über ihn schrieb, zeugte von grenzenloser Achtung und Dankbarkeit für ihn.
    Den Aufzeichnungen nach zu urteilen, unterlag Alina häufigen Stimmungsschwankungen, sie litt unter Phasen von tiefer Schwermut, war depressiv. Bisweilen hatte sie einen unangenehmen Traum, der sie anschließend lange beschäftigte. Zum Beispiel in der Aufzeichnung vom achten Dezember dreiundneunzig:
    »Er hat mich wieder im Traum aufgesucht. Dasselbe Gesicht mit dem großen Muttermal, dieselben Augen, dieselben schmalen Lippen. Merkwürdig, dass er sich in all den Jahren gar nicht verändert hat. Mir scheint, sein Gesicht sieht noch immer genauso aus wie vor vielen Jahren, als ich ihn zum ersten Mal sah. Wie gut, dass ich nun keine Angst mehr haben muss.«
    Der Traum von »demselben Gesicht« wurde auch am zweiten Januar vierundneunzig, am fünfzehnten Februar, am siebten Mai, am zwanzigsten September und zuletzt am zweiten März fünfundneunzig erwähnt. Es war offenkundig, dass er Alina immer seltener beunruhigte.
    Hin und wieder gab es kurze Bemerkungen über Pawel Schalisko, meist von der Art: ›Pawel ist doch ein Schatz, er hat nicht vergessen, im Hotel anzurufen.‹ Aber konkrete Umstände, so genanntes Faktenmaterial, bot das Tagebuch kaum. Alina brauchte es nicht, um darin von ihren täglichen Erlebnissen zu berichten, sondern zum Nachdenken, zum Analysieren, um ihre Gefühle mitzuteilen. Ganze zwölf Seiten waren beispielsweise dem alten französischitalienischen Film »Endstation Schafott« mit Jean Gabin und Alain Delon gewidmet:
    »Ich bin schon über einen Monat ganz krank, nachdem ich diesen Film gesehen habe. Ich will verstehen, WAS daran ist, das mir keine Ruhe lässt. Ich will begreifen, WAS Jean Gabin da gemacht hat, und WIE hat er es gemacht? Ich sehe mir ›Endstation Schafott‹ jeden Tag an und entdecke immer neue Schattierungen in seinem Spiel, immer neue Nuancen, Gesten . . . Vielleicht ist es alles zusammen – auch die Regie, die Musik? Aber ich muss dahinter kommen, ich finde keine Ruhe, ehe ich nicht weiß, warum dieser Film mir so nahe geht.«
    Dann folgten zwölf Seiten ausführliche Analyse, Szene für Szene. Das erinnerte Nastja sehr an die Aufzeichnungen, die sie von Degtjar bekommen hatte.
    Je länger Nastja in dem Tagebuch las, umso mehr kam sie zu der Überzeugung, dass es für den Mörder keinerlei Wert hatte. Selbst wenn sie sich sehr irrte und doch Schalisko Alina getötet hatte, gäbe es für ihn keinen Grund, warum er dieses Heft gestohlen haben sollte. Es enthielt nichts, was für ihn gefährlich wäre.
    Interessant war eine andere Frage: Sollte Alina Wasnis nur im Zeitraum von November dreiundneunzig bis März fünfundneunzig Tagebuch geführt haben? Nicht anzunehmen – sie musste das viele Jahre lang getan haben, vielleicht ihr ganzes Leben. Wo waren dann die übrigen Hefte? Wenn Nastja die Schauspielerin richtig beurteilte, dann hatte sie ihre Tagebücher wahrscheinlich nicht aufgehoben. Wenn ein Heft voll war, warf Alina es weg. Aus den Aufzeichnungen der anderthalb Jahre schloss Nastja eindeutig: Alina Wasnis litt nicht an Größenwahn. Sie schien nicht zu glauben, dass ihre Tagebücher für künftige Generationen wertvoll sein könnten, wie die von Dostojewski oder von Charlie Chaplin. Sie schrieb für sich selbst, hielt Zwiesprache mit einem imaginären Gesprächspartner, argumentierte, stellte Fragen und suchte nach Antworten. Wenn sie sich ausgesprochen hatte, war die Sache erledigt, dann brauchte sie das Tagebuch nicht mehr. Die Seiten des Heftes, das Nastja vor sich hatte, bezeugten, dass sie nicht wieder und wieder gelesen worden waren.

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