Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
missbilligend. »Zügle deine Phantasie, Anastasija. Schau dir mal diesen Körper an, die Dame hat in ihrem Leben nie etwas Schwereres in der Hand gehabt als ein Sandwich. Ihre Muskulatur ist völlig unterentwickelt.«
»Hast du eine bessere Erklärung?«
»Ich bin nicht dazu da, um mir deinen Kopf zu zerbrechen. Erklärungen zu finden ist deine Sache, ich konstatiere nur Tatsachen. Überlege dir, was die Dame durch die Gegend geschleppt haben könnte, und dann werde ich dir sagen, ob deine Hypothese brauchbar ist oder nicht.«
»Kann es vielleicht sein, Oleg, dass sie hier einfach von irgendwo heruntergesprungen ist?«
»Sieh an, welch ein helles Köpfchen«, knurrte der Gutachter. »Theoretisch kann es sein, in diesem Fall hätten sich die Absätze ihrer Schuhe tatsächlich tief in den Boden gebohrt. Aber wie stellst du dir das praktisch vor? Von wo hätte sie hier herunterspringen sollen? Vielleicht von einem Küchenhocker? Siehst du einen?«
»Schon gut, hör auf zu maulen, ich werde darüber nachdenken. Und du, schau dir im Labor ihr Kostüm genau an, sieh nach, ob du irgendwelche Spuren findest. Wenn sie einen schweren Gegenstand getragen hat, dann muss sie ihn an ihren Körper gepresst haben.«
»Verwechselst du dich im Moment vielleicht mit einer Untersuchungsführerin, Anastasija?«, raunzte Subow, der es nicht ausstehen konnte, wenn man ihm Anweisungen gab, besonders dann, wenn es sich um völlig selbstverständliche Dinge handelte.
Natürlich hatten laut Gesetz nur prozessführende Personen, zum Beispiel Untersuchungsführer und Richter, das Recht, Gutachtern Anweisungen zu geben und ihnen Fragen zu stellen, während Ermittlungsbeamte höchstens schüchtern bitten und auf einen Freundschaftsdienst des Gutachters hoffen konnten. Aber wer hielt sich schon an diese Gesetze? Man hatte sie längst vergessen.
Es begann zu dämmern, und die Kripobeamten machten sich langsam wieder auf den Weg. Man hätte natürlich Scheinwerfer aufstellen können, aber das wäre nicht mehr dasselbe gewesen. Aus irgendeinem Grund arbeiteten die Beamten nicht gern bei künstlichem Licht, sie zogen Tageslicht vor.
»Anastasija Pawlowna!«, hörte Nastja einen der Fahrer rufen. »Telefon für Sie.«
Nastja lief zum Wagen. Georgij, der bei der Flughafenpolizei in Scheremetjewo arbeitete, teilte ihr mit, dass die genannte Ljudmila Schirokowa am dreizehnten Oktober von Barcelona nach Moskau geflogen war. Den Sitzplatz neben ihr hatte ein gewisser Wladimir Alexejewitsch Strelnikow eingenommen.
Nun denn, dachte Nastja, ein gewisser Strelnikow also. Mit dem fangen wir an.
* * *
Es gelang ziemlich schnell, die wesentlichen Informationen über die Ermordete zu bekommen. Sie hatte ein gesetzestreues Leben geführt und ihrem Umfeld praktisch nichts von sich verborgen. Am Abend des nächsten Tages war bereits bekannt, dass Ljudmila Schirokowa nach Abschluss der Hotelfachschule eine kurze Zeit im Hotel Rusitsch gearbeitet hatte, das eine türkische Firma in Moskau erbaut hatte. Im April war sie auf Einladung von Freunden in die Türkei geflogen, um dort praktische Arbeitserfahrung in Hotels mit internationalem Standard zu sammeln. Im Juni kam sie nach Moskau zurück und nahm ihre Arbeit im Hotel Rusitsch wieder auf. Von diesem Zeitpunkt an lebte sie mit Wladimir Strelnikow zusammen, der bis vor kurzem Präsident des Fonds zur Förderung humanistischer Bildung gewesen war und seit September vergangenen Jahres einen leitenden Posten im Staatskomitee bekleidete. Am dreizehnten Oktober war sie aus Spanien zurückgekommen, wo sie mit Strelnikow zwei Wochen in einem modischen Badeort verbracht hatte. Was sie am achtundzwanzigsten Oktober, dem Tag ihrer Ermordung, vorgehabt hatte, wusste niemand mit Bestimmtheit zu sagen. Milas Eltern hatten keinen Einblick in das Leben ihrer Tochter, da sie bereits seit langem nicht mehr bei ihnen lebte und sie nicht in ihre Angelegenheiten einweihte. Sie war am Morgen dieses Tages zur Arbeit gekommen, hatte ihre Schicht abgeleistet, sich verabschiedet und war wieder gegangen. Niemand hatte etwas Besonderes an ihrem Verhalten bemerkt, und sie hatte auch nichts darüber verlauten lassen, wie und wo sie den Abend zu verbringen gedachte.
Nach Aussagen ihrer Kollegen im Hotel Rusitsch hatte Mila eine große Vorliebe für Sex. Sie lief den Männern nicht hinterher, das hatte sie nicht nötig, da die Männer selbst großes Interesse an der blonden, blauäugigen Schönheit zeigten, sodass sie nur zu wählen
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