Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
wirklich eine sehr amüsante Erscheinung. Die Schultern so breit, dass er kaum durch die Tür kam, Arme und Beine, die nur aus Muskeln bestanden, aber die Stimme . . . dünn und piepsig wie die eines Mädchens. Er sprach in einem manierierten, süßlichen Tonfall und zog die Vokale in die Länge. Es war zum Totlachen. Viktor Derbyschew war ganz offensichtlich kein Dummkopf, er hatte zur Unterhaltung seiner Besucherin ein ganz und gar ungefährliches Wesen ausgesucht, eines, das ihm die Dame keinesfalls vor der Nase wegschnappen würde.
Plötzlich fiel Mila etwas ein. Der Anhänger. Verdammt, beinahe hätte sie es vergessen. Sie öffnete ihre Handtasche, entnahm ihr einen Halsschmuck in Form eines kleinen geflügelten Amors mit Pfeil und Bogen und versteckte ihn zwischen den Sofakissen. Diesen Trick wandte Mila schon seit langem an, und obwohl er denkbar einfach war, funktionierte er fast immer. Es kam vor, dass ein Partner Mila sehr gefiel, aber manchmal sagte ihr das Gespür der erfahrenen Frau, dass er von der Angel gehen und das erste Treffen mit ihm auch das letzte sein konnte. Wenn nach zwei, drei Tagen kein Anruf von ihm kam, rief sie ihn selbst an und teilte ihm mit schuldbewusster Stimme mit, dass sie ihren Anhänger in seiner Wohnung verloren hatte. Alles Weitere war nur noch eine Frage der Taktik, und Mila erreichte praktisch jedes Mal ihr Ziel. Wenn der Partner ihr nicht gefiel oder keine Notwendigkeit bestand, sich eines nächsten Treffens im Voraus zu versichern, nahm sie den Anhänger unauffällig wieder an sich, bevor sie die Wohnung verließ.
»Mila, ist bei Ihnen alles in Ordnung? Haben Sie es bequem?«, hörte sie Alik fragen. »Viktor wird in fünf Minuten hier sein.«
Mila war in Gedanken vertieft und bemerkte nicht, dass die Stimme plötzlich ganz anders klang, gar nicht mehr piepsig und manieriert, sondern kräftig, schön und völlig normal.
Drittes Kapitel
Nastja Kamenskaja hatte nicht geahnt, dass es in Moskau noch solche Ecken gab. Eine riesige unbebaute Fläche, die mit Müll übersät war. Zwar befand sich dieser Schandfleck nicht in der Innenstadt, sondern an der Peripherie, in der Nähe einer Ausfallstraße, es waren keine Wohnhäuser zu sehen, aber dennoch . . .
Die Ermordete, eine schöne junge Frau in einem eleganten hellgrünen Seidenkostüm, lag auf der Erde, mit dem Gesicht nach unten. Die Miliz befand sich bereits seit drei Stunden am Fundort der Leiche, die Identität der Ermordeten war inzwischen festgestellt. Es handelte sich um Ljudmila Schirokowa, achtundzwanzig Jahre alt, Empfangsdame im Hotel Rusitsch. Der Gutachter Oleg Subow hatte seine Arbeit bereits erledigt, jetzt machte sich der Gerichtsmediziner an der Leiche zu schaffen. Es sah so aus, als sei die Frau erwürgt worden, aber die wahre Todesursache würde erst die Obduktion zeigen. Vielleicht hatte man sie vorher vergiftet oder noch etwas anderes mit ihr angestellt. Der Gerichtsmediziner hatte festgestellt, dass der Tod vor vierzig bis achtundvierzig Stunden eingetreten war, also bereits vor fast zwei Tagen.
Obwohl schon Ende Oktober, war es noch warm, die Leute gingen ohne Mäntel und freuten sich des verspäteten Altweibersommers. Aber Nastja fror. Sie hatte Kreislaufprobleme und fror immer, wenn die Temperatur unter fünfundzwanzig Grad sank. Die Jacke fest um den Körper geschlungen, die Hände tief in den Taschen vergraben, ging sie langsam auf und ab und versuchte sich vorzustellen, was diese elegante, mit Goldschmuckstücken behängte junge Dame zu dieser Müllhalde geführt haben mochte. Was hatte sie hier verloren? Warum war sie an diesen Ort gekommen und wie? Doch nicht etwa zu Fuß? Es gab hier keine öffentlichen Verkehrsmittel, die nächste Bushaltestelle war mindestens fünf Kilometer entfernt. Wenn sie mit dem Auto gekommen war, dann fragte es sich, wo dieses Auto jetzt abgeblieben war. Oder hatte sie jemand in seinem Wagen hierher gebracht? Doch wer und wozu? Um sie hier zu ermorden? Allem Anschein nach war es genauso.
»Nastja«, rief Jura Korotkow erstaunt aus, »du wirst nicht glauben, wie klein die Welt ist. Ich habe in der Handtasche der Ermordeten ein Buch von Tatjana Tomilina, Stassows Frau, gefunden. Was es nicht alles gibt.«
»Es gibt noch mehr als das, Jura«, seufzte Nastja. »Trotzdem ist es kurios. Wir müssen unbedingt Stassow anrufen und ihm von dieser Geschichte erzählen.«
»Stell dir so etwas einmal vor«, sagte Korotkow, der sich nicht beruhigen konnte, »welch ein Sujet!
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