Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
ein halbes Jahr ohne freie Tage, und das nächste halbe Jahr hat man gesetzlichen Urlaub.«
»Du kannst mir viel erzählen«, brummte der Vater. »Später wirst du es bereuen und dir die Haare raufen, aber dann sage nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
Ljuba fühlte sich in die Enge getrieben. Schon ihr ganzes Leben lang hatte sie Angst vor ihren Eltern. Sie hatten sie nie geschlagen, aber bei jeder Gelegenheit machten sie ihr Vorhaltungen. Wir haben dich ja gewarnt . . . Wir haben von Anfang an gewusst, dass es so enden wird . . . Das geschieht dir recht, wir haben es dir gleich gesagt. . . Es war unerträglich. Noch nie hatte Ljuba von ihnen einen brauchbaren Rat bekommen, weil sie immer erst von den Schwierigkeiten erzählen musste, in die sie geraten war, und dann ging es sofort los: Wir haben dich gewarnt, wir haben es dir gesagt, das geschieht dir recht, wir haben es gleich gewusst. . . Hätte sie die Kraft in sich gefunden, diese Standpauken über sich ergehen zu lassen, sich bis zum Ende anzuhören, wie dumm und ungehorsam sie war, wäre vielleicht irgendwann der Rat gekommen, den sie brauchte. Vielleicht. Aber so lange hielt Ljuba es nie aus. Mit fünfzehn Jahren hatte sie beschlossen, sich mit ihren Problemen nicht mehr an ihre Eltern zu wenden. Sollten sie denken, dass bei ihr alles in Ordnung war. Sie erzählte ihnen nichts mehr, um sich nicht jedes Mal wieder anhören zu müssen, dass sie dumm und schlecht war und an allem selbst schuld. Natürlich war sie selbst schuld, das bestritt sie ja nicht. Aber man erzählte anderen schließlich nicht von seinen Problemen, um gesagt zu bekommen, dass man selbst schuld war, sondern weil man Mitgefühl und Hilfe brauchte. Nur deshalb. Warum verstanden ihre Eltern etwas so Einfaches nicht?
Die Mutter beklagte sich zuweilen über die Verschlossenheit ihrer Tochter.
»Warum erzählst du mir nichts?«, fragte sie beleidigt, wenn sie wieder einmal bemerkte, dass im Leben ihrer Tochter etwas geschah, wovon sie nichts wusste.
Weil du nicht zuhören kannst, wollte Ljuba jedes Mal antworten. Weil du sofort anfängst, mich zu belehren, zu warnen und mir Moral zu predigen, anstatt einfach zur Kenntnis zu nehmen, was ich dir erzähle.
Nach ihrem halbjährigen Aufenthalt in der Türkei hatte Ljuba ihren Eltern kurz und knapp von ihrer Arbeit in einem Viersternehotel erzählt, sie hatte ihnen die angeblich getätigten Einkäufe vorgeführt und damit das Thema Türkei abgeschlossen. Alles war bestens, einfach großartig, mehr gab es nicht zu sagen.
Der Tag teilte sich für Ljuba in zwei Hälften, von denen jede auf ihre Weise qualvoll war. Tagsüber gingen ihre Eltern arbeiten, und sie war sich selbst überlassen, in der Zeit vom Abend bis zum nächsten Morgen waren ihre Eltern zu Hause und bedrängten sie mit Fragen. Jedes Wort, das sie sagten, brachte sie fast zum Schreien. Sie wollte sich die Ohren zuhalten, sofort in ihr Zimmer stürzen, die Tür abschließen und nicht mehr öffnen. Nie mehr. Sie wollte einschlafen und nach dem Aufwachen begreifen, dass das alles nur ein Albtraum war.
Sie war eine Mörderin. Der Hass hatte die Oberhand über ihre Vernunft gewonnen, sie hatte ihrer unbändigen Rachsucht nachgegeben. Sie hatte den Tod ihrer Freundin gewollt. Sie hatte diesen Tod ersehnt, erträumt, sie hatte in der Dunkelheit dagelegen und beim Gedanken an ihren Tod gelächelt, wie einst in dem stickigen Verschlag in der Türkei, wenn sie an Strelnikow und ihr Wiedersehen mit ihm dachte. Ljuba hatte nur noch für dieses Wiedersehen gelebt, und als sich herausstellte, dass Strelnikow nicht auf sie gewartet hatte, war es, als wäre sie innerlich zerbrochen, da der Hauptpfeiler ihres inneren Gebäudes eingestürzt war. Aber dann war plötzlich ein neuer Pfeiler da gewesen, der Pfeiler des Hasses. Des Hasses gegen Strelnikow und gegen Mila Schirokowa. Die zerbrochene Seele hatte sich wieder zusammengesetzt, sie hatte wieder festen Halt gefunden. Es hatte wieder etwas gegeben, worauf sie warten, wonach sie streben und wovon sie träumen konnte. Und nun war Mila nicht mehr da. Wieder war der Pfeiler ihrer Seele eingestürzt, wieder zerfiel, zersplitterte alles. Ihr war, als würde sie auf den Knien herumkriechen und ständig versuchen, die Bruchstücke ihrer Seele einzusammeln, aber sie bekam sie nicht zu fassen, je verzweifelter sie danach griff, desto weiter entfernten sie sich von ihr. Dieses Bild verfolgte sie Tag und Nacht. Es wäre besser gewesen, wenn du am Leben
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