Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
geblieben wärst, dachte sie, dann hätte ich wenigstens gewusst, wofür ich lebe und was ich will. Aber jetzt will ich überhaupt nichts mehr. Ich verstehe nichts mehr und habe keinen Grund zum Weiterleben.
Am Montag, dem Tag von Milas Begräbnis, ging Ljuba morgens zur Kirche, die sich in der Nähe ihres Hauses befand. Seit sie wieder bei ihren Eltern wohnte, war sie fast jeden Tag in der Kirche gewesen. Sie war nicht gläubig, aber auch keine überzeugte Atheistin, die Frage nach Gott hatte sie nie sonderlich beschäftigt. Doch in ihrem haltlosen, lodernden Hass war sie bereit gewesen, alles zu tun, um Mila aus der Welt zu schaffen. Ihre Freundin. Ihre Rivalin. Diese Diebin, dieses verkommene, schmutzige Flittchen. Irgendwo hatte sie einmal gehört, dass man die Gefahr, die von einem Feind ausging, von sich abwenden konnte, wenn man dreimal in die Kirche ging, eine Kerze für den Feind anzündete und ihm Gesundheit und Gottes Segen wünschte. Andere Ratschläge, wie ein Feind unschädlich zu machen war, stammten aus dem Reich der schwarzen oder weißen Magie und zielten auf Bannsprüche, Verwünschungen und andere Zaubereien ab. Ljuba griff in ihrem Hass nach allem, was sich bot. Schon während sie bei den Tomtschaks gewohnt hatte, hatte sie Wahrsager, Hellseher und Magier aufgesucht. Dann, als sie zu ihren Eltern zurückgekehrt war, ging sie jeden Tag in die Kirche. Sie stellte eine Kerze für Mila auf, starrte in die Flamme und flüsterte verzückt:
»Ich will, dass du stirbst. Du sollst unter schrecklichen Qualen sterben. Du sollst wenigstens fünf Minuten lang so leiden, wie ich gelitten habe. Ich will nicht, dass du lebst.«
Doch heute, am Tag des Begräbnisses ihrer verhassten Rivalin, hoffte Ljuba darauf, dass sie wenigstens eine Ahnung von innerer Ruhe überkommen würde. Alles hatte sich erfüllt. Alles war so gekommen, wie Ljuba es gewollt hatte. Sie brauchte keinen Hass und kein Gift mehr, ihre Seele konnte nun Frieden finden.
Sie betrat die Kirche, kaufte drei Kerzen und stellte sie, wie immer, vor der Ikone von Nikolaj, dem Gerechten, auf. Von dieser Stelle aus hatte sie Mila verflucht, ihr den Tod gewünscht, hier wollte sie die Tote auch um Vergebung bitten.
»Verzeih mir, Mila«, flüsterte sie, »ich habe nicht gewusst, was ich tat. Ich habe den Verstand verloren, ich war blind vor Hass. Jetzt weiß ich, dass es besser gewesen wäre, wenn du am Leben geblieben wärst. Aber es ist zu spät. Ich wollte deinen Tod, ich habe dich umgebracht. Warte auf mich, Mila, ich werde auch nicht mehr lange bleiben. Wir werden uns bald Wiedersehen.«
Früher, während Ljuba vor dieser Ikone gestanden und ihre Verwünschungen gesprochen hatte, war sie ruhiger geworden und hatte die Kirche fast versöhnt verlassen. Für einige Stunden war sie sogar bereit gewesen, auf Rache zu verzichten. Der Hass in ihrem Innern hörte auf zu toben, und für kurze Zeit wurde sie beinahe wieder die, die sie einst gewesen war. Sie hoffte inständig darauf, dass auch ihr heutiger Kirchgang sie erleichtern würde. Doch die Erleichterung blieb aus. Sie fühlte überhaupt nichts mehr. Keine Scham, keine Reue, kein Mitleid, keine Schuld. Und Ljuba begriff voller Entsetzen, dass es erneut der Hass war, den sie brauchte, um sich innerlich wieder zusammenzusetzen, sie brauchte den Hass als Magnet. Mila gab es nicht mehr. Aber es gab noch Strelnikow.
* * *
Über die Hintergründe des Mordes an Ljudmila Schirokowa gab es inzwischen umfangreiche Informationen, doch die wichtigste Frage blieb ungeklärt: Wo und mit wem hatte die Frau den Abend verbracht, an dem sie ermordet wurde? Stassows Frau Tatjana war sich ganz sicher, dass es Ljudmila Schirokowa war, die an jenem Tag neben ihr in der Metro gesessen hatte. Sie war zwischen sieben und halb acht Uhr abends an der Haltestelle Kitajgorod eingestiegen und an der Akademicheskaja wieder ausgestiegen.
»Von der Akademicheskaja aus ist sie wahrscheinlich nicht mehr weitergefahren, jedenfalls nicht allein«, sagte Tatjana.
»Wie kommst du darauf?«, fragte Nastja erstaunt.
Tatjana drehte das graublaue Taschenbuch nachdenklich in ihren Händen, dann öffnete sie es an der Stelle, wo sich das Lesezeichen befand, die bunte Bordkarte vom Flughafen Barcelona.
»Das Lesezeichen befindet sich immer noch fast an derselben Stelle, wo die Schirokowa es eingelegt hat, bevor sie aus der Metro ausstieg. Ich erinnere mich genau, an welcher Stelle sie zu lesen aufgehört hat. Und jetzt steckt das
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