Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
einem Herrn Derbyschew. Diesen Namen haben Sie auch noch nie gehört?«
»Nein.«
»Nun, Wjatscheslaw Petrowitsch, dann fassen wir jetzt zusammen. Ihr Freund Strelnikow hat auf Ihrer Datscha die Korrespondenz seiner Braut versteckt, die diese mit uns unbekannten männlichen Personen geführt hat. Wie können Sie sich das erklären?«
»Ich verstehe überhaupt nichts . . . Wie ist das möglich?«
Tomtschak trat verwirrt von einem Fuß auf den andern, sein gehetzter Blick ging zwischen Korotkow und dem Untersuchungsführer hin und her.
»Leider kann ich Ihnen nicht weiterhelfen«, sagte Olschanskij trocken. »Auch ich verstehe bisher nicht viel, außer einem: Strelnikow hat gewusst, dass seine Braut mit diesen Männern korrespondiert hat, und aus irgendeinem Grund wollte er nicht, dass die Kripo von dieser Tatsache erfährt. Und das ist Grund genug, ihn zu verdächtigen.«
Wieder allein, ließ Wjatscheslaw Tomtschak sich kraftlos aufs Sofa fallen und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Deshalb also war Wolodja zu ihm auf die Datscha gekommen. Um diese Briefe zu verstecken. Mila war, bevor sie Strelnikow kennen lernte, ein Flittchen, und daran hatte sich nichts geändert, sie war auch als Strelnikows Braut ein Flittchen geblieben. Ljuba hatte die Wahrheit gesagt, sie hatte nicht übertrieben. Wolodja hatte diese Briefe gefunden und wollte sie nicht dem Untersuchungsführer aushändigen, um Milas Namen nach ihrem Tod nicht in den Schmutz zu ziehen. Aber vielleicht hatte er die Briefe nicht erst nach ihrem Tod gefunden, sondern schon vorher, und dann hatte er gewusst. . . Ein Mord aus Eifersucht. . .. Doch nein, das war Unsinn. Strelnikow hatte Mila nicht umgebracht. Das war unmöglich.
Er war gekommen, hatte eine Menge über Freundschaft und Vertrauen geredet, er hatte sich entschuldigt und den Freunden neue Arbeit versprochen, aber in Wirklichkeit wollte er nur diese Briefe verstecken . . . Was für eine Niedertracht! Und er, Tomtschak, war weich geworden, hatte ihm geglaubt und seine Unterstützung versprochen. Er musste ein kompletter Idiot sein. Sollte Larissa wirklich Recht haben? Starrten er und Gena Leontjew mit blinder Bewunderung auf Strelnikow, während dieser sie nur manipulierte und benutzte wie Gebrauchsgegenstände? Wenn man diese Gegenstände benötigte, holte man sie aus der Schublade, und wenn man sie gerade nicht brauchte, erinnerte man sich nicht einmal an ihre Existenz.
Aber ein Mörder konnte Strelnikow trotzdem nicht sein. Oder etwa doch?
* * *
Das Läuten an der Wohnungstür erschien Ljuba ohrenbetäubend laut. Sie war allein zu Hause, ihre Eltern waren zur Arbeit, und sie erwartete niemanden. Sie löste sich mit Mühe aus der Erstarrung, in der sie sich seit Milas Tod fast ununterbrochen befand, und ging zur Tür. Sie sah durch den Spion und erblickte ein sympathisches Frauengesicht.
»Wer ist da?«, fragte sie.
»Öffnen Sie bitte«, hörte sie die Frau sagen. »Ich komme von der Evangelistengemeinde.«
Ljuba öffnete eilig die Tür. Alles, was mit der Kirche zusammenhing, flößte ihr Vertrauen ein und übte eine fast magische Anziehung auf sie aus. Vor ihr stand eine junge Frau mit gütigen Augen und dem Ausdruck unendlicher Geduld in dem glatten, runden Gesicht.
»Verzeihen Sie bitte die Störung«, sagte sie mit einem schüchternen Lächeln, »dürfte ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«
»Ja, bitte«, erwiderte Ljuba bereitwillig.
»Glauben Sie daran, dass es nur einen Gott für alle gibt?«
»Ja«, sagte Ljuba sofort.
»Aber wie ist es dann zu erklären, dass unterschiedliche Religionen existieren? Glauben Sie, dass unser christlicher Gott und zum Beispiel Allah ein und derselbe Gott sind?«
»Ja, das glaube ich.«
»Aber es sind doch ganz unterschiedliche Lehren, teilweise widersprechen sie einander sogar. Bedeutet das, dass nur eine der Religionen richtig ist und alle anderen falsch?«
»Nein«, sagte Ljuba entschieden, »alle Religionen sind richtig. Sie sind nur unter unterschiedlichen historischen Bedingungen entstanden, ich meine die Zivilisation, die Kultur und sogar das Klima. Jede Religion ist richtig für diejenigen, die sie praktizieren.«
»Sind Sie selbst gläubig?«
»Ja.«
»Dann erlauben Sie mir, Ihnen unsere Bücher zu schenken. Es wird Sie vielleicht interessieren, was die Theologen zu diesem Thema sagen. Wir verlangen kein Geld für unsere Bücher, wir wollen die Menschen zum Nachdenken bringen, weil sie sich dann vielleicht an Christus wenden
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