Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
und in Seiner Lehre Antworten auf die Fragen finden werden, die sie quälen.«
Die junge Frau reichte Ljuba zwei Bändchen, ein ganz schmales und ein etwas dickeres in einem grellroten Einband.
»Danke«, lächelte Ljuba, insgeheim froh darüber, dass das Gespräch so leicht und schnell zu Ende gegangen war.
»Darf ich in ein paar Tagen wiederkommen, um zu erfahren, ob unsere Bücher Ihnen gefallen haben? Vielleicht werden Sie Fragen haben, die wir dann zusammen besprechen könnten. Wenn der Inhalt unserer Bücher Ihr Interesse weckt, lade ich Sie gern zu einer unserer Versammlungen ein.«
»Sie werden mich wohl kaum antreffen«, sagte Ljuba hastig. »Ich arbeite tagsüber und komme erst sehr spät nach Hause. Heute haben Sie mich ganz zufällig angetroffen, weil ich einen freien Tag habe.«
»Sehr schade«, sagte die Frau enttäuscht. »Entschuldigen Sie nochmals die Störung, und danke für das Gespräch.«
Ljuba schloss erleichtert die Tür und ging zurück ins Zimmer. Sie setzte sich aufs Sofa und betrachtete die Bücher. Das rote erwies sich als Neues Testament, das andere, das dünne, hieß »Das größte Geschenk ist das Leben« und trug den Untertitel »Das Johannesevangelium«. Ljuba fühlte, wie alles in ihr erstarb. Das Leben war das größte Geschenk. Das Leben war das Beste, das Kostbarste, das Wunderbarste, was Gott den Menschen geschenkt hatte. Und sie, Ljuba, hatte gewagt, einem anderen Menschen den Tod zu wünschen. Gott hatte auch Mila Schirokowa das Leben geschenkt. Er hatte gesehen, was aus diesem Leben geworden war, wie viel Leid Mila ihren Freunden zufügte, und doch hatte Er ihr dieses Leben nicht genommen, weil das Sein Wille war, Sein höchster Ratschluss. Und Ljuba hatte sich angemaßt, sich über diesen Willen hinwegzusetzen, ihren eigenen Willen darüber zu setzen. Sie würde niemals Vergebung erlangen . . .
Sie las an zufällig aufgeschlagenen Stellen in dem Buch, und es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Das Leiden fügten uns nicht andere Menschen aus böser Absicht zu, nein, es war Gott, der uns diese Prüfungen auferlegte, damit wir an innerer Kraft und Festigkeit Zunahmen, damit wir in uns hineinblickten und sahen, was wichtig und kostbar war und was hinfällig und vergänglich. Das Leiden reinigte die Menschen, deshalb schickte uns Gott Prüfungen, um uns zu verändern, besser, stärker, gütiger zu machen. Gott sah alles, und wenn wir leiden mussten, dann war das Sein Wille. Er wusste besser als wir, was richtig war und was falsch. Ljuba hatte die Prüfung nicht bestanden, sie hatte versagt und jenen falschen Weg eingeschlagen, vor dem Gott immer warnte: den Weg der Rache. Man durfte einem anderen Menschen nicht den Tod wünschen, denn nur der Allerhöchste entschied darüber, wem das Leben gegeben und wem es genommen wurde.
Sie würde niemals Vergebung erlangen . . . Niemals.
Sechstes Kapitel
Larissa Tomtschak saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Fußboden in der Wohnung ihres Schwiegervaters und blätterte in einem der üblichen Familienalben. Um sie herum lagen Fotos verstreut, und sie konnte sich einfach nicht entscheiden, welches das beste war. Vor kurzem war Tomtschaks Mutter gestorben, es war an der Zeit, den Grabstein zu bestellen, und Slawa hatte seine Frau gebeten, die Familienfotos durchzusehen, unter anderem auch die alten, und das beste für den Grabstein auszusuchen. Larissa hatte immer ein sehr gutes Verhältnis zu ihrer Schwiegermutter gehabt, ihr Tod hatte sie aufrichtig betrübt, und sie wollte, dass das Foto auf dem Grabstein sie so zeigte, wie sie gewesen war: gütig, freundlich, immer zu einem Lächeln bereit.
In den letzten zehn Jahren war die Schwiegermutter oft krank gewesen, deshalb sah sie auf den Fotos aus dieser Zeit trotz ihres fröhlichen Gesichtsausdrucks nicht sehr gut aus. Larissa beschloss, nach einem älteren Foto zu suchen, auf dem ihre Schwiegermutter noch eine gesunde, blühende Frau war, die sich modisch kleidete und viel lachte. Allmählich arbeitete sie sich bis zu den Alben vor, in denen die Fotos schon zwanzig Jahre alt waren. Slawa, ihr Mann, hatte zu dieser Zeit noch studiert, und ihre Schwiegermutter war etwas über fünfundvierzig, mitten in der Blüte reifer Weiblichkeit. In diesem Album lagen viele Fotos zwischen den Seiten, und Larissa betrachtete sie aufmerksam. Wie jung sie damals waren, Slawa, Gena Leontjew und Strelnikow! Alle drei studierten in einer Gruppe und waren eng befreundet. Sogar auf den Fotos waren
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