Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
sie meistens gemeinsam zu sehen: auf der Datscha, bei der Kartoffelernte, auf Studentenabenden, bei Wehrübungen, beim Volleyballspielen . . . Fröhlich, lachend, sorglos. Inzwischen war Slawa ganz ergraut, von Genas einstiger Mähne war nichts mehr übrig, er hatte jetzt eine Glatze, nur Strelnikow war immer noch schön, die Jahre konnten ihm nichts anhaben.
Larissa schloss die Augen und gab sich ihren Erinnerungen hin. Es hatte eine Zeit gegeben, als Strelnikow ihr ganz und gar nicht gleichgültig war. Um ehrlich zu sein, sie war Hals über Kopf in ihn verliebt. Ständig versuchte sie, einen Blick von ihm zu erhaschen, und zuckte zusammen, wenn sie seine Stimme hörte. Sie traf sich damals bereits mit Tomtschak, aber von Heirat war noch nicht die Rede. Wie sehr sie sich damals wünschte, Strelnikow möge sie Tomtschak »wegnehmen« . . . Eines Tages hielt sie es nicht mehr aus und ging so weit, Strelnikow anzudeuten, was sie sich von ihm erhoffte. Und er? Lara, sagte er, du bist ein wunderbares Mädchen, unter anderen Umständen wäre ich glücklich, aber Slawa ist mein Freund. Sollte Slawa aufhören, dich zu lieben und dich verlassen, können wir noch einmal über die Sache reden. Ein Gentleman. Ein Freund. Tomtschak verließ sie natürlich nicht und hörte nicht auf, sie zu lieben. Aber nach jenem Gespräch waren Larissas Gefühle für Strelnikow abgekühlt. Sie hatte sich ihr Leben lang nur für Männer interessiert, die sich auch für sie interessierten. Die Rolle der aufsässigen Eroberin lag ihr ganz und gar nicht. In ihr war kein Funken Groll gegen Strelnikow zurückgeblieben. Romantische Jugendfreundschaft erschien ihr in jenen Jahren ganz natürlich, und seit dem bewussten Vorfall war Strelnikow sogar noch in ihrer Achtung gestiegen. Und mit ihm auch Tomtschak. Strelnikow war die Freundschaft mit Slawa wichtig, er schätzte ihn und wollte ihn nicht wegen eines Mädchens verlieren, also war auch Tomtschak kein Niemand auf dieser Welt. Kurzum, die Situation löste sich zu aller Zufriedenheit in Wohlgefallen auf.
Larissa begann wieder, in den Fotos zu kramen. Plötzlich zog eines der Gesichter ihre Aufmerksamkeit an. Ein schönes, groß gewachsenes Mädchen mit langen dunklen Haaren war in eine Unterhaltung mit einem anderen Mädchen vertieft, ohne zu bemerken, dass hinter ihr drei Freunde wüste Grimassen schnitten und ein Plakat hochhielten, auf dem »Die Früchte der Emanzipation« stand. Larissa hatte dieses Mädchen irgendwann einmal schon gesehen, sie hatte sich mit ihr sogar über etwas sehr Ernsthaftes unterhalten. Ja, sie erinnerte sich genau, das war sie, sogar der Pullover auf dem Foto war derselbe, schneeweiß und lang, mit einer großen aufgestickten Blume auf der rechten Brust . . .
* * *
Sie war damals zwanzig Jahre alt, sie hatte eine Medizinfachschule absolviert und arbeitete als Krankenschwester in der Gynäkologie. Die Frauenärztin Albina Leonidowna, Larissas Chefin, war eine grobe, rücksichtslose Person. Werdenden Müttern gegenüber verhielt sie sich fürsorglich und liebevoll, aber diejenigen, die wegen eines Schwangerschaftsabbruchs zu ihr kamen, behandelte sie wie Abschaum, wie Vieh, das kein einziges menschliches Wort verdiente.
Das Mädchen in dem weißen Pullover mit der großen aufgestickten Blume kam im März in die Sprechstunde. Larissa erinnerte sich, dass es ein kalter, windiger Regentag war. Das Mädchen hatte nasses Haar, man sah, dass sie ohne Regenschirm unterwegs gewesen war; als sie nach der langen Wartezeit ins Behandlungszimmer kam, war das Haar immer noch nicht trocken geworden. Albina erkannte sofort, dass die Patientin nicht zur Kategorie der werdenden Mütter gehörte.
»Was fehlt Ihnen?«, fragte sie barsch, während sie den Namen auf die Patientenkarte schrieb.
»Ich habe ganz offensichtlich eine Zyklusstörung«, sagte das Mädchen ruhig. »Ich bekomme meine Tage nicht mehr.«
»Wann war die letzte Menstruation?«
»Mitte Dezember.«
»Haben Sie Geschlechtsverkehr?«
»Nein.«
»Wie alt sind Sie?«
»Neunzehn.«
»Schmerzen, andere Beschwerden?«
»Ich leide an Kopfschmerzen und Übelkeit. Ansonsten fehlt mir nichts.«
»Ziehen Sie den Pullover aus.«
Die Ärztin erhob sich und tastete die Brust der Patientin ab.
»Ziehen Sie sich aus, und dann auf den Stuhl«, befahl Albina schroff.
Das Mädchen ging hinter den Wandschirm und begann sich auszukleiden. Albina machte noch einige Einträge in die Patientenkarte, dann warf sie den Stift auf den
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