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Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes

Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes

Titel: Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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Tisch und ging zum Untersuchungsstuhl. Larissa hörte das Klappern der Untersuchungsinstrumente hinter dem Wandschirm und kurz darauf die empörte Stimme der Ärztin.
    »Warum versuchst du, mich an der Nase herumzuführen?«
    »Das tue ich doch gar nicht«, sagte das Mädchen verwirrt. »Ich habe tatsächlich irgendeine Störung.«
    »Eine Störung!«, raunzte Albina. »Das ist keine Störung, das ist eine Schwangerschaft. Und du spielst mir die Jungfrau vor. Denkst du tatsächlich, dass du mir ein X für ein U vormachen kannst?«
    »Aber nein, Sie irren sich. Ich kann nicht schwanger sein. Ich habe nie . . . Das ist wahrscheinlich eine Geschwulst. . .«
    »Zieh dich an«, sagte die Ärztin scharf. »Und hör auf, mich zu belehren. Zur Not kann ich eine Schwangerschaft gerade noch von einer Geschwulst unterscheiden. Du bist bereits in der zehnten oder elften Woche.«
    Sie stürzte wie eine Furie hinter dem Wandschirm hervor, setzte sich an den Schreibtisch und nahm erneut die Patientenkarte zur Hand.
    »Unverschämtes Pack«, brummte sie laut, während sie ihre Einträge machte, »sie halten die Ärzte für Vollidioten. Natürlich hat sie nie . . . Ein heiliger Wind hat ihr den Bauch aufgeblasen. Sie treiben es wahrscheinlich schon seit dem Kindergarten, und dann wundern sie sich . . . Was für eine Generation wächst da heran, nein, das verstehe ich nicht, was wächst da bloß heran.«
    Das Mädchen kam angekleidet hinter dem Wandschirm hervor, und Larissa bemerkte erstaunt die Veränderung, die mit ihr vor sich gegangen war. Ihr Gesicht glich einer Maske, es war völlig versteinert und schrecklich anzusehen.
    »Ist das wahr?«, fragte sie mit tonloser Stimme. »Bin ich wirklich schwanger?«
    »Nein, ich mache nur Spaß«, erwiderte Albina Leonidowna bissig. »Ich habe dir doch gesagt: zehnte bis elfte Woche. Verstehst du kein Russisch? Setz dich, ich muss Überweisungen für dich ausstellen.«
    »Überweisungen?«, fragte das Mädchen verständnislos.
    »Du musst die üblichen Schwangerschaftsuntersuchungen machen. Du willst doch sicher abtreiben lassen, oder?«
    »Abtreiben?«, wiederholte das Mädchen, als hätte es nicht verstanden.
    »Oder willst du das Kind zur Welt bringen?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Das Mädchen erhob sich und ging zur Tür. Das geschah so unerwartet und abrupt, dass weder Albina noch Larissa dazu kamen, noch ein Wort zu sagen. Als Erste fasste sich die Ärztin.
    »Hier«, sagte sie und reichte Larissa die Überweisungsscheine, »hol sie ein und gib ihr das. Die Untersuchungen muss sie auf jeden Fall machen.«
    Larissa stürzte hinaus auf den Korridor. Das Mädchen war nirgends zu sehen. Sie lief vor die Tür und sah das Mädchen ohne Mantel im Regen stehen, erstarrt, mit hängenden Schultern. Larissa berührte sie vorsichtig am Arm.
    »Sag mal, hast du es wirklich nicht gewusst?«
    Sie schüttelte wortlos den Kopf.
    »Wie konnte das passieren?«
    »Ich weiß es«, sagte das Mädchen leise. »Es kann nur an Silvester gewesen sein. Ich darf nichts trinken. Ich bekomme zwar keinen Schwips, aber ich kippe sofort um und schlafe ein. Und hinterher weiß ich von nichts. Nur so kann es passiert sein.«
    »Diese Schweine!«, rief Larissa empört aus. »Weißt du wenigstens, wer es war?«
    Das Mädchen schüttelte erneut den Kopf.
    »Vielleicht dein Freund? Hast du mit ihm Silvester gefeiert?«
    »Nein, wir waren eine ganze Clique. Ich habe keinen Freund.«
    »O mein Gott, du Ärmste. Aber man kann herausfinden, wer es war. Du kennst sie doch alle, oder?«
    »Natürlich. Es waren meine Kommilitonen. Aber ich will nichts herausfinden.«
    »Warum? Du musst ihn finden und sagen . . .«
    »Nein.«
    Das Mädchen sagte das so scharf und bestimmt, dass Larissa unwillkürlich verstummte.
    »Ich werde ihn nicht suchen. Ich mache überhaupt nichts.«
    »Du willst das einfach so hinnehmen? Man hat dich doch vergewaltigt, ist dir das klar? Man hat deinen hilflosen Zustand ausgenutzt und dir deine Jungfernschaft genommen. Das ist doch strafbar. Du musst heute noch zur Miliz gehen und Anzeige erstatten, hörst du?«
    »Nein. Ich gehe nicht zur Miliz. Danke für Ihre Anteilnahme. Auf Wiedersehen.«
    Das Mädchen drehte sich um und ging.
    »Warte!«, rief Larissa ihr hinterher. »Du hast deinen Mantel vergessen.«
    Das Mädchen ging wortlos ins Gebäude zurück und kam nach einigen Sekunden im Mantel wieder heraus. Ebenso wortlos ging sie an Larissa vorüber und verschwand hinter der nächsten Ecke.
    Das war alles.

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