Anathem: Roman
Spulo: die Opfer eines Massakers am Straßenrand; ihre hysterischen Frauen, die sich die Kleider vom Leib reißen und sich auf dem Boden wälzen)
Ich fuhr fort: »Ich wette meinen letzten Energieriegel mit euch, dass ihr, wenn ihr nachschaut, feststellen werdet, dass sie 690 Jahre alt ist.«
»Du glaubst also, dass sie im Jahr 3000 angefangen haben, dieses Loch zu graben«, sagte Ganelial Crade. »Warum? Hast du ein Faible für runde Zahlen?«
Das war einer der äußerst seltenen Versuche von Crade, witzig zu sein, und so verlangte es die Höflichkeit von mir, bevor ich antwortete, mit einem kurzen Grinsen darauf zu reagieren. »Ich bin ziemlich sicher, dass Fraa Jad wusste, dass das im Gange war. Er erkannte es sofort. Deshalb glaube ich, dass während der jüngsten Tausendjährlichen Konvox mit dieser Ausgrabung begonnen worden sein muss. Der Tausendermath von Saunt Edhar dürfte Delegierte zu dieser Konvox entsandt haben, die davon erfuhren und dieses Wissen mit nach Hause brachten – und so wusste auch Fraa Jad davon.«
Sammann gab, wie üblich, bereitwillig den Advocatus Diaboli: »Ich will dir gar nicht widersprechen, aber selbst wenn du recht
hast, erscheint es mir sonderbar, dass Fraa Jad nur einen einzigen Blick auf diese Phototypie zu werfen brauchte, um zu wissen, dass es die Orithena-Ausgrabung ist. Es könnte ein beliebiges Loch im Boden sein. Nichts weist auf einen Zusammenhang mit Ekba hin.«
Bisher hatten wir uns hauptsächlich mit der Phototypie beschäftigt, die die gesamte Ausgrabungsstätte zeigte. Die anderen waren vergrößerte Detailaufnahmen, die vorher nicht viel Sinn ergeben hatten. Als ich sie mir jetzt noch einmal genauer anschaute, konnte ich die Umrisse alter Gebäudefundamente, die Stümpfe von Säulen und kleinere ebene Areale mit Fußbodenkacheln erkennen. Eine davon trug dieses Zeichen:
Ich zeigte darauf. »Das ist das Analemma«, sagte ich. »Der Tempel von Orithena war eine große Camera obscura. Er hatte ein kleines Loch im Dach, das ein Bild der Sonne auf den Boden projizierte. Mit dem Wechsel der Jahreszeiten traf der Sonnenfleck jeden Tag während ihres Mittagsrituals – was wir heute als Provene begehen – an einer anderen Stelle auf. Im Verlauf eines Jahres zeichnete er dieses Muster auf den Boden.«
»Du glaubst also, Fraa Jad bemerkte das Analemma auf dieser Phototypie und sagte sich: ›Aha, das muss der Tempel von Orithena sein‹? Das erscheint mir doch ziemlich schnell gedacht«, sagte Cord.
»Tja, er ist eben ein ziemlich schlauer Bursche«, erwiderte ich. Das war keine besonders höfliche Antwort. Jesry hätte mich an dieser Stelle geebnet. Cord war hier zu Recht skeptisch. Ich wollte diesen Punkt aber nicht weiter vertiefen. Das Tempo, mit dem Fraa Jad dieses Loch erkannt hatte, legte nahe, dass er, wie vermutlich die anderen Millenarier auch, eine Menge darüber wusste. Ich befürchtete, dass wir, wenn wir noch fester an diesem losen Ende zogen, schließlich wieder bei verrücktem Gerede über die Stammlinie landen würden.
»Oh, wie interessant«, sagte Sammann, den Blick auf sein Nicknack gerichtet, »Erasmas gewinnt seine Wette. Mit der Ausgrabung auf den Phototypien wurde tatsächlich im Jahr 3000 A. R. begonnen.« Dann sah er noch eine Besonderheit auf dem Display, hob den Kopf und grinste mich an. »Und zwar von Edhariern!«
»Großartig!«, murmelte ich und hätte Sammanns Nicknack am liebsten an die Wand geschmissen.
»Es ist ein Ableger von Saunt Edhar. Viele andere edharische Mathe rund um die Welt haben jedoch Fraas und Suurs beigesteuert, um die Arbeiten in Gang zu bringen.«
»Wie viele Avot leben dort?«, fragte Cord. Ich konnte sehen, wie es in ihrem Kopf rechnete: Wenn jeder Avot 690 Jahre lang pro Tag zwanzig Schubkarren Schutt bewegt, wie groß ist das Loch dann?
»Darauf werde ich noch einmal zurückkommen müssen«, sagte Sammann, das Gesicht leicht verzogen. »Das meiste, was es über dieses Thema an Informationen gibt, ist Scheiße.«
»Wie meinst du das?«, fragte Crade. Wir horchten alle auf, denn sein Ton war mit einem Mal ausgesprochen defensiv geworden.
Sammann hob den Blick von seinem Nicknack und schaute Crade interessiert an. Er ließ ein paar Sekunden verstreichen, bevor er in ruhigem, sachlichem Ton sagte: »Jeder kann über jedes Thema Informationen einstellen. Deshalb ist ein Großteil dessen, was man im Retikulum findet, Scheiße. Es muss gefiltert werden. Die Filtersysteme sind alt. Seit der Rekonstitution haben
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