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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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konnten. Unter der linken Hand befand sich eine kleine Kugel, die sich frei in einem Wiegegelenk drehte; unter der rechten ein pilzförmiger Hebel, der sich in vier Richtungen bewegen sowie herunterdrücken und hochziehen ließ. Erstere steuerte die Rotation des Anzugs, die ziemlich leicht zu beherrschen war. Letzterer steuerte die Translationsbewegung – die Bewegung durch den Raum im Gegensatz zur Drehung an Ort und Stelle. Das war eine kitzlige Sache. Im Raum herrschten andere Verhältnisse, als wir sie gewohnt waren. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn ich ein Objekt verfolgte, das sich in derselben Umlaufbahn befand, entspräche es meinem natürlichen Instinkt, eine Steuerrakete zu zünden, die mich vorwärtstreiben würde. Aber sie würde mich in eine höhere Umlaufbahn befördern, sodass der Gegenstand, dem ich nachjagte, sich bald unter mir befinden würde. Alles, was wir hier unten an Gewissheiten besaßen, würde dort oben falsch sein. Selbst diejenigen von uns, die zu Orolos Füßen Orbitalmechanik gelernt hatten, konnten es nur dadurch wirklich begreifen, dass sie dieses Spiel spielten.
    »Es ist trügerisch«, befand Jules. Er und ich waren zusammen in einer dieser Zellen. Ich beherrschte dieses Spiel schon bald recht gut, da ich die zugrunde liegende Theorik kannte, und so hatte ich die Rolle übernommen, anderen zu helfen. »Die linke Hand scheint eine große Wirkung zu erzielen.« Er drehte die kleine Kugel. Ich schloss die Augen und schluckte, während das Bild auf den Schirmen – es bestand aus Arbre und einigen anderen Dingen, die um uns herum in einer »Umlaufbahn« waren – wild herumruckelte. »In Wirklichkeit allerdings haben sich die sechs Elemente nicht im Geringsten verändert.« Er sprach von den sechs Zahlen, die in einer Reihe unten auf dem simulierten Display standen: dieselben sechs Zahlen, über die ich Barb einmal in der Refektoriumsküche unterrichtet hatte.
    »Das stimmt«, sagte ich, »du kannst dich drehen, so viel du willst, ohne dass es deine Bahnelemente verändert – und nur auf die kommt es wirklich an.« Eine Sechsfachanzeige unten rechts begann zu flackern, was mir verriet, dass Jules mit der anderen Hand – dem Dexter, wie er sie nannte – mit dem pilzförmigen Hebel spielte, den er als Steuerknüppel bezeichnete. Die sechs Bahnelemente begannen
zu schwanken. Eines davon wechselte von Grün zu Gelb. »Aha«, sagte ich, »du hast gerade deine Neigung vermasselt. Du hast deine Bahnebene verlassen.«
    »Auf lange Sicht sehr folgenreich«, sagte er, »und dennoch kann ich im Augenblick irreführenderweise keinen großen Unterschied bemerken.«
    »Genau. Ich lasse es mal vorwärtslaufen, um dir zu zeigen, was passiert.« Ich hatte ein Steuerpult für Ausbilder, mit dem ich die Simulation im Zeitraffer vorwärtslaufen ließ, wodurch ich die nächste halbe Stunde auf etwa zehn Sekunden zusammendrängte. Die anderen Satelliten trieben so weit von uns weg, dass sie nicht mehr zu sehen waren. »Sobald du so weit weg bist, dass du deine Freunde nicht mehr sehen kannst – oder sie nicht mehr von den ganzen Attrappen unterscheiden kannst …«
    »Bin ich pärdüh«, sagte er nüchtern. »Kannst du es zurücklaufen lassen?«
    »Natürlich.« Ich ließ die Simulation bis zu dem Punkt zurücklaufen, kurz nachdem er seine Neigung vermurkst hatte.
    »Wie kann ich das korrigieren – so vielleicht?«, murmelte er und probierte etwas mit dem Steuerknüppel. Die Neigung wurde noch ein bisschen ungünstiger, und die Exzentrizität sprang von Gelb auf Rot. »Märde«, sagte er. »Jetzt habe ich schon zwei von sechs vermasselt.«
    »Versuch mal das Gegenteil von dem, was du gerade getan hast«, schlug ich vor. Er zündete die gegenüberliegende Feinsteuerrakete, und die Exzentrizität verbesserte sich, aber die große Bahnhalbachse wurde schlechter. »Ein ziemliches Gefummel«, sagte er. »Warum habe ich nur Sprachwissenschaften studiert und nicht Himmelsmechanik? Die Sprachwissenschaft hat mich in diesen Schlamassel gebracht – nur die Physik hilft mir wieder heraus.«
    »Wie ist es eigentlich da oben?«, fragte ich ihn. Er wurde zunehmend frustriert, und ich fand, dass ihm eine Pause vielleicht guttäte.
    »Du hast doch bestimmt das Modell gesehen. In den äußeren Merkmalen, die man mit euren Teleskopen sehen kann, ist es ziemlich genau. Natürlich bekommen die Vierzigtausend größtenteils nie etwas davon zu sehen. Sie sehen nur das Innere des Kugelstapels, wo sie ihr ganzes Leben

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