Anathem: Roman
der Gegend und wo ein Konzent im Gegensatz zu unseren drei Kapiteln hier ein Dutzend oder mehr beherbergen konnte.
Er fuhr fort: »Normalerweise würde ich einfach davon ausgehen, dass ein Avot das betont, was sie unterschied. Bei dir dagegen hatte ich fast den Eindruck, du verwiesest auf eine …« Und er hielt
inne, als suchte er nach einem Wort, das nicht im Fluckischlexikon stand.
»Gemeinsamkeit?«, schlug die Frau vor. »Eine Parallele zwischen ihnen?« Ihr Akzent verriet – ebenso wie die Knochenstruktur ihres Gesichts und ihre Hautfarbe -, dass sie von dem Kontinent kam, auf dem in diesem Zeitalter die Säkulare Macht ihren Sitz hatte. Und so hatte ich mir inzwischen eine schlüssige Geschichte über diese beiden ausgedacht: Sie lebten weit weg in großen Städten, waren beim selben Arbeitgeber beschäftigt, einem Weltkonzern, dessen hiesige Niederlassung sie aus irgendeinem Grund besuchten, hatten gehört, dass der letzte Tag der Apert war, und beschlossen, ein paar Stunden auf die Besichtigung der Sehenswürdigkeiten zu verwenden. Beide hatten in ihrer Jugend, so meine Mutmaßung, wenigstens ein paar Jahre in einem Unariermath verbracht. Vielleicht hatte das Orth des Mannes etwas Rost angesetzt, und er fühlte sich wohler, wenn die Unterhaltung ausschließlich auf Fluckisch geführt wurde.
»Nun, ich glaube, viele Gelehrte würden mir darin beipflichten, dass Deat und Hyläa beide sagen, man solle das Symbol nicht mit dem Symbolisierten verwechseln«, bemerkte ich.
Er sah aus, als hätte ich ihm den Finger ins Auge gestoßen. »Was ist das für eine Art, einen Satz anzufangen? ›Ich glaube, viele Gelehrte würden mir darin beipflichten, dass …‹ Warum sagst du nicht einfach, was du meinst?«
»Also gut. Deat und Hyläa sagen beide, man solle das Symbol nicht mit dem Symbolisierten verwechseln.«
»Das ist besser.«
»Für Deat ist das Symbol ein Götzenbild. Für Hyläa ist es eine dreieckige Form auf einer Tafel. Für Deat ist das, was symbolisiert wird, ein echter Gott im Himmel. Für Hyläa ist es ein reines theorisches Dreieck in der HTW. Stimmst du nun mit mir darin überein, dass ich von dieser Gemeinsamkeit an sich sprechen kann?«
»Ja«, sagte der Mann widerstrebend, »aber ein Avot treibt nur selten eine These so weit, nur um sie dann fallen zu lassen. Ich warte immer noch darauf, dass du eine weitere These darauf gründest, so wie sie es in den Dialogen tun.«
»Ich verstehe genau, was du meinst«, sagte ich. »Aber zu dem Zeitpunkt war ich nicht im Dialog.«
»Aber jetzt bist du es!«
Ich betrachtete das als Scherz und kicherte auf eine Weise, von der ich hoffte, dass sie höflich wirkte. Ein Anflug trockener Belustigung huschte über sein Gesicht, aber insgesamt machte er einen ernsten Eindruck. Der Frau schien ein wenig unbehaglich zumute zu sein.
»Aber vorhin war ich es nicht«, sagte ich, »und vorhin musste ich eine Geschichte erzählen, und sie musste plausibel sein. Es ist plausibel, dass Deat und Hyläa dieselbe Idee nahmen und sie in verschiedene Bereiche einordneten. Hätte ich aber behauptet, sie hätten völlig widersprüchliche Dinge über die Vision ihres Vaters gesagt, wäre das nicht plausibel gewesen.«
»Es wäre völlig plausibel gewesen, wenn du Deat als verrückt dargestellt hättest«, wandte er ein.
»Das stimmt wohl. Vielleicht habe ich diese Direktheit vermieden, weil so viele Deolatisten in der Gruppe waren.«
»Dann hast du also aus reiner Höflichkeit etwas gesagt, wovon du eigentlich gar nicht überzeugt bist?«
»Es ist eher eine Sache der Betonung. Ich bin sehr wohl von dem überzeugt, was ich vorhin über die Gemeinsamkeit gesagt habe – genau wie du, da du mir ja bis dahin zugestimmt hast.«
»Was glaubst du, wie weit eine solche Mentalität in diesem Konzent verbreitet ist?«
Als die Frau das hörte, sah sie aus, als hätte ein fauliger Geruch ihre Nase gestreift. Sie drehte sich seitlich zu mir und fragte den Mann mit gedämpfter Stimme: »Mentalität ist ein abwertender Begriff, oder?«
»Also gut«, sagte der Mann, ohne den Blick von mir zu wenden. »Wie viele sehen das hier genauso wie du?«
»Es ist ein typischer Streit zwischen Prokiern und Halikaarniern«, sagte ich. »Avot, die sich auf Halikaarn, Evenedrik und Edhar berufen, suchen die Wahrheit in der reinen Theorik. Auf der Seite der Prokier/Faanier wird die Vorstellung von absoluter Wahrheit überhaupt skeptisch gesehen, und es besteht eher die Tendenz, die Geschichte von
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