Anatomie einer Affäre: Roman
lockerte sie ihre Strümpfe, bis sie sich wie zwei zart gesponnene Nester um ihre Knöchel kräuselten. Meine Mutter war sonderbar nachlässig für jemanden, der immer so makellos, mehr als nur makellos aussah – für jemanden, der jeden verfügbaren Lichtstrahl auf sich zu lenken schien. Ich hatte es immer peinlich gefunden, wie sie nach der Schule mit unseren Freundinnen in der Küche saß, sich ihr Geplausch anhörte und dabei die Asche auf den gefliesten Boden stippte. Nicht dass sie keine Aschenbecher gehabt hätte. Einmal entdeckte ich einen davon im Kühlschrank – was mich nicht überraschte; der Inhalt unseres Kühlschranks unterlag oft einer gewissen Willkür. Ich weiß noch, wie ich sie eines Nachmittags, als ich hungrig nach Hause kam, anschrie: »Was machst du eigentlich den ganzen Tag?!« Worauf sie nichts erwiderte. Es gab nichts, das sie darauf hätte erwidern können.
Ich nehme an, in den ersten Jahren ihrer Witwenschaft hatte sie die Dinge schleifen lassen, und das haben wir ihr nicht verziehen. Kinder wollen Normalität. Vielleicht ist das alles, was sie wollen.
Jedenfalls war Normalität genau das, was ich an jenem Silvesterabend bekam: ein Sandwich mit Käse und Tomaten, eine Tasse Tee. Meine Mutter durchstöberte die Flaschen auf der Suche nach etwas Brauchbarem, schüttelte einen Karton Cranberrysaft und sagte: »Gut für die Blase.« Dann gingen wir gemeinsam ins Wohnzimmer und redeten über – ich kann mich kaum daran erinnern, worüber wir redeten, es hat sich in meinem Hirn nicht festgesetzt. Ich weiß noch, dass sie sagte: »Wie geht’s den Schwiegereltern?«, und ich antwortete: »Frag lieber nicht.«
Diäten, natürlich: dass sich beim Älterwerden das ganze Gewicht nach vorn verlagert. Ich glaube, wir redeten auch über Röcke versus Kleider, über alte Freunde und was aus ihnen geworden war, ihre wie meine. Über meine störrische Abneigung gegen Pastellfarben. Das Übliche.
Dann, um fünf nach zwölf, stand sie auf und machte Anstalten, zu Bett zu gehen, und ich wusste nicht, was tun oder wohin mit mir. Vielleicht war sie so an ihre Routine gewöhnt, dass es ihr gar nicht in den Sinn kam, mich zur Tür zu begleiten.
Ich schnüffelte am letzten Rest meines Getränks und schluckte ihn hinunter.
»Bin ich über der Promillegrenze?«, fragte ich und löste großes Tamtam aus. Joan, für die öffentliche Verkehrsmittel ein tiefes Mysterium waren, wollte von meinem Vorschlag, »ausgerechnet in dieser Nacht« ein Taxi zu bestellen, nichts hören.
»Ach, Schatz«, sagte sie. »Geh doch auf dein altes Zimmer.«
Zu dem Zeitpunkt stand sie bereits in der Diele, hielt den Pfosten am Fuß der Treppe umklammert und hatte vor lauter Sorge die Augen geweitet. Ihr röchelnder Atem ging schleppend.
»Dann lass mich dir wenigstens helfen«, sagte ich, doch sie wehrte mich unbestimmt ab und begann allein hinaufzusteigen, wobei sie sich am Geländer festhielt.
»Aber nur für diese Nacht!«
Für den Fall, dass ich dachte, die Bürde der Betreuung würde sich auf mich verlagern.
Ich folgte ihr nach oben, ging in mein altes Schlafzimmer, kletterte ins Bett und entkleidete mich Stück für Stück zwischen Laken, die vor Kälte ganz schlüpfrig waren. Am Morgen erwachte ich wie ein Kind und ging nach unten, wo mich ein Frühstück aus Eiern, Würstchen, Toast, Butter und Tee erwartete. Meine Mutter trug bereits ein himbeerfarbenes Kaschmirtwinset und einen Tweedrock und hatte sich geschminkt – nur ein paar Krähenfüße, sie hatte eine wirklich bemerkenswerte Haut. Sie schalt mich wegen meiner billigen Strumpfhose und schickte mich nach oben, um aus ihrer Kommode eine neue Packung Strümpfe zu holen. »Mutter, ich bin zweiunddreißig Jahre alt.«
Die Strümpfe schlug ich aus, fand jedoch einen großen Kostümring, den sie noch aus ihrer wilden Jugend hatte und den ich mir stattdessen auslieh. Beinahe hätte ich auch noch einen Schal genommen, doch aus einem Gefühl der Traurigkeit heraus legte ich ihn im letzten Moment zurück und sagte: »Ich weiß nicht, wann ich ihn dir zurückbringen kann.«
Dann stiegen wir in ihren Renault und fuhren hinaus nach Bray, wo sich mein Schwager am Neujahrsschwimmen beteiligte.
Wir durchquerten die menschenleere Stadt und parkten am Meer. Es dauerte eine Weile, bis wir ihn in dem Menschengewühl am Strand ausfindig machten: den Ehemann meiner Schwester, der mit seiner Vogelscheuchenperücke und einem gelben T-Shirt, auf dem »Aware« stand, einem
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