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Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
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Weihnachtsspiel entsprungen zu sein schien. Er sammele Spenden »für Depression«, sagte er, während sich seine Kinder an Fionas Beine drückten und in starrer Verwunderung zu ihm aufblickten. Er sah dick aus. Oder schlimmer als dick, dachte ich – mit seinem Bauch und seinen Beinen, die in der Stretchhose spindeldürr wirkten, sah er aus wie ein Mann gesetzten Alters. Besonders grauenhaft waren seine Füße; wachsartig und weiß auf dem steinigen Strand, über den er mühsam stolperte, um die tiefe, wogende See und die masochistisch kreischende Menschenmenge zu erreichen. Alle planschten herum und wandten sich winkend zu der Ansammlung am Ufer. Mir bereitete es Unbehagen, Leute in Halloweenmasken oder wippenden Hüten schwimmen zu sehen – wie etwa den Typen neben mir, der seinen Mantel ablegte und sich in einen Irren verwandelte, der nicht den Unterschied zwischen nass und trocken kannte.
    Anschließend fuhren wir wieder nach Enniskerry, hatten Suppe und Tee, und unsere Mutter blieb zurück, um zu babysitten, während wir zu Seán und Aileen gingen, um uns mit Bullshots zu kurieren.
    Es war also ganz natürlich und gottgegeben, dass ich um zwei Uhr nachmittags in rechtschaffener Manier über den Neujahrskies auf die mattgraue Tür des Hauses zuschritt, das meinem Kollegen und Bekannten Seán Vallely gehörte. Die Tür hatte einen handförmigen Klopfer, den seine Frau aus Spanien mitgebracht hatte.
    Das Haus war nicht so groß, wie ich es von jener Nacht in Erinnerung hatte, als ich im Auto saß und die Lichter ausgehen sah. Irgendwie hatte es sich in den Tagen nach meinem kleinen Stalking-Zwischenfall in meiner Vorstellung zu einem viereckigen georgianischen Farmhaus geweitet, mit einer riesigen Gartenfläche davor und dahinter. In Wirklichkeit aber war es nur eine Doppelhaushälfte, und die Fenster – eins auf jeder Seite der Tür und drei nebeneinander im Obergeschoss – waren überhaupt nicht so groß. Trotzdem hatte es etwas. Es hatte lutscherförmige Lorbeerbäume mit roten Weihnachtsschleifen, es hatte geschmackvolle weiße Lichterketten, die vom Dachgesims troffen, es hatte dieses Etwas aus Cotswold-Kies und Buchsbaumhecken, das ich gleichermaßen verabscheute und begehrte, und ich näherte mich der Türschwelle mit bösen Gedanken.
    »Netter Klopfer«, sagte ich, als ich die schlanken Messingfinger anhob und wieder fallen ließ. Dann fixierte ich meinen Blick auf das lackierte Holz und wartete darauf, dass die Tür aufschwang.
    Als die Tür sich öffnete, war jedoch niemand zu sehen.
    Natürlich war es Evie, die auf der anderen Seite stand, und das warf mich um. Von dem Stück Luft, in dem ich ein Erwachsenengesicht erwartet hatte, musste ich nach unten schauen. Gut möglich, dass mir die Gesichtszüge entglitten, als ich sie entdeckte. Sie betrachtete mich mit diesem neugierigen, gebannten Blick, und Fiona sagte: »Erinnerst du dich noch an Megans Tante?«
    »Ja«, aber nichts in ihrer Stimme klang überzeugend.
    Dann sagte sie: »Hallo, Gina.«
    Und ich sagte: »Hallo, du Süße«, denn genau das war sie, als sie auf ihre fassungslos-beglückte Art Mäntel einsammelte und die schmale Treppe hinauftrug, um sie auf einem nicht näher bezeichneten Bett abzulegen.
    An Evie hatte ich die ganze Zeit über nie gedacht. Warum, weiß ich nicht. Dass es eine Ehefrau gab, war mir stets präsent, sie war wie eine Mauer, die am Rande meines Bewusstseins verlief, aber wenn es dich nach einem Mann gelüstet, wirst – oder kannst – du wohl kaum an seine Tochter denken. Ich schlief mit Seán, und was mich betraf, so war Evie in der ganzen Geschichte ohne Belang. Ihr Schatten fiel nicht, durfte nicht auf unser Hotelbett fallen. Es wäre schlichtweg verkehrt, wenn sie in einem solchen Augenblick existierte, es wäre geradezu unanständig. Oder weniger als unanständig – es ergäbe keinen Sinn.
    Und da war sie nun. Ihre Existenz bestürzte mich. Als ich zusah, wie sie, meinen Mantel über beide Unterarme gebreitet, die Treppe hinaufging, hatte ich düstere Zukunftsvisionen. Schlimmer noch, es gab da ein Wort, das ich ihrem aufsteigenden Rücken nachrufen wollte, einen absurden Ausruf wie »Du kleine Kuh!«.
    Aber ich wusste nicht, wie das Wort lautete oder welchem Drama es entstammte. »Mörder!« War das Miss Brodie oder Baby Jane? In meiner Schulzeit hatten wir einmal einer Aufführung von Hamlet beigewohnt, und während Ophelias Wahnsinnsszene sprang vor mir ein Mädchen aus einer Innenstadtschule auf, ein

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