Anatomie
Leena.«
Ihr weißes Haar flog im Rhythmus ihrer Bewegungen auf und ab. »Leena war die Tochter meiner Schwester Sophie. Leena war eine Bonds, keine Kitchings, aber sie war trotzdem meine Blutsverwandte. Ihr Vater war einer von den Bonds drüben in Clairborne County.« Der Schaukelrhythmus schien sie fast in Trance zu versetzen. »Leena kam zu uns, als ihre Mutter und ihr Vater starben. Unsere Jungen, Orbin und Tom, waren damals drei und fünf. Manchmal war sie sehr lieb zu ihnen, manchmal nicht. Leena war … nun, man könnte es wohl temperamentvoll nennen, man kann auch sturköpfig sagen. Aber sie war hübsch anzusehen, genau wie ihre Mutter, das muss man ihr lassen.«
»Erzählen Sie mir von ihrer Mutter – Sophie, sagten Sie, war ihr Name?« Die alte Frau nickte im Takt ihrer mächtigen Schaukelbewegungen. »Sophie war Ihre Schwester?« Ein weiteres gewaltiges Nicken. »Älter oder jünger als Sie?«
»Jünger. Drei Jahre? Nein, vier.« Sie schaute auf ihre gefleckten Hände, die die Armlehnen des Schaukelstuhls umklammerten. »Sophie war immer die Hübschere von uns beiden. Ich glaube, Thomas hatte sich eigentlich in sie verguckt, aber als sie dann mit Junior Bonds anbändelte, hat Thomas mir den Hof gemacht. Er dachte wohl, wenn er Sophie nicht haben kann, würde er sich eben mit mir begnügen.« Mir fiel wieder ein, was O’Conner mir über die Strenge des Priesters erzählt hatte, und ich empfand Mitleid mit der Frau, die seine zweite Wahl als Ehefrau gewesen war.
»Wie sind Leenas Eltern gestorben?«
»Das Haus ist abgebrannt. Eines Nachts, als alle schliefen, fing der Schornstein Feuer. Leena sprang aus dem Fenster, das war ihre Rettung. Sophie und Junior hatten nicht so viel Glück.«
»Wie alt war Leena damals?«
»Dreizehn, vielleicht vierzehn. Leena war glücklicherweise eine Spätentwicklerin, aber als sie schließlich erblühte, war sie eine Schönheit. Ob beim geselligen Beisammensein der Kirchengemeinde oder bei Hochzeiten, ja selbst bei Beerdigungen, man kam durch die Schar der Jungen, die sie umlagerten, kaum zu ihr durch.«
»War einer von diesen Jungen Jim O’Conner?«
Sie warf mir einen raschen Blick zu. »Nun, sicher. Er war nicht der größte Kerl in der Gegend, aber er sah gut aus, und er hatte ’ne Menge Schneid. Wie ein kleiner Zwerghahn stolzierte er über den Wirtschaftshof, aber das machte nichts.« Ein trauriges Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel. »Er war richtig süß damals. Seither ist er ein wenig hart geworden, aber ich kann nicht behaupten, ich würde ihm daraus einen Vorwurf machen. Vielleicht werden wir alle härter, sobald das Leben uns ein paar harte Lektionen erteilt.«
Sie machte eine Pause – beim Reden und beim Schaukeln –, und ich wartete eine Weile, bevor ich ihr meine nächste Frage stellte. »Mrs. Kitchings, waren Leena und Jim O’Conner ein Paar? Meinten sie es ernst?«
Sie fing wieder an zu schaukeln und nickte. »Ja. Ja, es war ihnen ernst. Sie sprachen davon, zu heiraten, sobald er aus Vietnam zurück wäre.« Sie zog die zweiten Silbe beträchtlich in die Länge – »nahm«.
»Und wie standen Sie dazu?«
»Oh, ich fand das in Ordnung. Ich mochte Jim, und ich wusste, dass sie verrückt nach ihm war. Nicht viele Mädchen hier oben in den Bergen kriegen so einen Mann. Die Auswahl ist mager; man nimmt, was man kriegen kann, oder macht seinen Frieden damit, eine alte Jungfer zu werden.« Das klang, als spräche sie jetzt von sich. »Leena sollte ein gutes Leben und einen guten Mann haben.«
»Dann haben Sie und Ihr Mann ihnen Ihren Segen gegeben.«
Das Schaukeln wurde durch einen Ruck unterbrochen, doch sie fand rasch wieder in ihren Rhythmus zurück. »Nun, das hätten wir getan. Ich kann nicht behaupten, dass Thomas den O’Conner-Jungen genauso ins Herz geschlossen gehabt hätte wie ich. Thomas war für das Mädchen wie ein Vater, kein Bursche wäre in seinen Augen je gut genug gewesen für sie.«
Ich wusste, was ich fragen musste, aber nicht, wie ich es formulieren sollte. »Hat er versucht, ihr abzuraten? Oder ihn zu entmutigen?«
Ihr Tempo nahm zu. »Die eine oder andere Diskussion mag es wohl gegeben haben. Thomas hat immer direkt heraus gesagt, was er dachte. Der nimmt kein Blatt vor den Mund. Er konnte sehr scharf werden, und einmal hat er ein paar harsche Sachen über den O’Conner-Jungen zu ihr gesagt.«
»Und wie hat Leena reagiert?«
»Na, das Mädchen ist über ihn hergefallen wie …« Sie hörte auf zu schaukeln und
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