anderbookz Short Story Compilation II

dunkler Bäume hinter einem Stacheldrahtzaun. Harry schloß auch diese Tür hinter sich, ging zu seinem schmalen Bett und setzte sich. Er konnte das Blut hinter seinem Gesicht pulsieren fühlen, seine Augen schienen seltsam warm zu sein, als wären sie von Glühfäden erwärmt. Langsam, fast feierlich zog Harry die Hutnadel unter dem Kragen hervor und legte sie auf sein Kissen. »Hundert«, sagte er. »Neunundneunzig, achtundneunzig, siebenundneunzig, sechsundneunzig, fünfundneunzig, vierundneunzig ...«
    Als er bei ›eins‹ angelangt war, stand er auf und verließ das Schlafzimmer. Er ging rasch nach unten, ohne zu der Tür zu sehen, hinter der die Treppe zum Dachboden lag. Im Erdgeschoß schlüpfte er in Maryroses Schlafzimmer, ging zum Schreibtisch und zog die untere rechte Schublade auf. Aus dieser Schublade nahm er eine samtbezogene Schachtel. Diese öffnete er und stieß die Nadel ins Nadelkissen, in dem noch viele andere steckten, aus dem er sie geholt hatte. Er stellte die Schachtel wieder in die Schublade, schob die Schublade in den Schreibtisch und verließ rasch das Zimmer und ging wieder nach oben.
    In seinem eigenen Schlafzimmer zog Harry die Kleidung aus und legte sich ins Bett. Sein Gesicht brannte immer noch. Er mußte sehr rasch eingeschlafen sein, denn als nächstes hörte er Albert, der ins Schlafzimmer gestapft kam und seine Kleidungsstücke und Stiefel überall hinwarf. »Schlaft ihr schon?« fragte Albert. »Ihr habt das Dachbodenlicht angelassen, ihr verfluchten Dummköpfe, aber wenn ihr glaubt, ich werde eure verdammten Ärsche retten und hinaufgehen und es abschalten, dann seid ihr noch dümmer, als ihr ausseht.«
    Harry achtete sorgsam darauf, keinen Finger zu bewegen, nicht einmal ein Haar.
    Er hielt den Atem an, während sich Albert auf das Bett warf, und als Alberts Atem langsamer und regelmäßiger wurde, folgte er seinem Bruder in den Schlaf. Er erwachte erst wieder, als er seinen Vater halb kreischend, halb schluchzend oben auf dem Dachboden hörte, und das war sehr spät in der Nacht.

    11

    Sonny kam von Fort Sill, George aus Deutschland. Zwischen sich hielten sie einen gebrochenen Edgar Beevers am Rand des Grabes, während ein Pfarrer, den Harry noch nie gesehen hatte, aus einer Bibel las, die so rissig und brüchig war wie ein alter brauner Schuh. Zwischen seinen beiden ältesten Söhnen sah Harrys Vater gramgebeugt und uralt aus, ein knochiger alter Mann, der selbst nur noch Schritte vom Grab entfernt war. Sonny und George verachteten ihren Vater, das sah Harry - sie hielten ihn in seinem Kummer aufrecht, teilweise aber wohl nur deshalb, weil sie jeder dreißig Dollar zusammengelegt hatten, um ihm einen Anzug zu kaufen, und nun nicht wollten, daß er mit seinem neuen Besitz auf dem nassen Lehm des Friedhofs zusammenbrach. Sein Schnurrbart glänzte in der Sonne, Feuchtigkeit glitzerte in den Augen und den Mundwinkeln. Er hatte so stark gezittert, daß weder Sonny noch George ihn rasieren konnten, und er hatte sich erst gerade fortbewegen können, als Sonny ihm ein paar Schlucke aus einer lederbezogenen Flasche gab, die er aus seinem Rucksack holte.
    Der Pfarrer sprach einige feierliche Worte zum Thema Epilepsie.
    Sonny und George sahen in ihren Uniformen so solide wie Backsteinmauern aus, wie Gefängniswärter oder tatsächlich sogar Gefängnisse selbst. Neben ihnen wirkte Albert eingesunken und unfertig. Albert trug die grüne karierte Sportjacke, in welcher er in der achten Klasse graduiert worden war, seine Handgelenke hingen deutlich sichtbar und rot etwa vier Zoll aus den Ärmeln heraus. Die Motorradstiefel waren unter der hellgrünen Hose zu sehen, aber auch sie hatten, wie die grüne Jacke, ihr glänzendes Erscheinungsbild verloren. Wie Albert selbst: Seit Eddies Leichnam entdeckt worden war, war Albert im Hause herumgeschlichen, als hätte er sich gerade eben die Zungenspitze abgebissen und wüßte nicht, ob er sie nun ausspucken sollte oder nicht. Er sah keinem direkt in die Augen, und er sagte kaum etwas. Albert verhielt sich, als wäre ihm ein gewaltiges Vorhängeschloß vor die Brust geschnallt worden und als wäre er verdammt, würde er es jemals abnehmen. Er hatte Sonny und George keine einzige Frage nach der Armee gestellt. Ab und an gab er eine Bemerkung zur Tankstelle ab, allerdings so tonlos, daß sie jegliche Erwiderung erstickte.
    Harry betrachtete Albert, der neben ihrer Mutter stand und seine Hände knetete und den Blick wie unter einem Bann auf den Boden