anderbookz Short Story Compilation
durchdringenden Blick erhob und die Eßutensilien wegräumte.
»Ich bin auf dem Aussichtsdeck«, sagte sie knapp. Die Psychotests mochten Drake zwar geistige Gesundheit bescheinigen, aber merkwürdig war sie allemal.
»Ich werde mich in Kürze zu Ihnen gesellen«, antwortete Drake.
Eine freundliche Geste? Unwahrscheinlich. Der distanzierte Tonfall sowie die angenehme Atmosphäre des Aussichtsdecks ließen vielmehr vermuten, daß Drake sich ganz einfach gern dort aufhielt. Abrupt verließ Harper den Raum.
Ein paar Minuten später erschien Drake auf dem Aussichtsdeck und ließ sich im Sessel nieder, die langen Beine übereinandergeschlagen. Als wolle sie sich unterhalten, hatte sie den Sessel vis-à-vis Harpers Platz auf dem Sofa gewählt, drehte sich jedoch um und schaute aus dem Fenster. Harper sah sie mit unverhohlenem Groll an. Drake saß in ihrem Blickfeld und behinderte ihre Sicht auf die spektakulären Weiten jenseits der Fenster; ihre Reserviertheit, ihr Schweigen, störten sie aus weit weniger klaren Gründen. Während sie Drake so anstarrte, wurde sie unfreiwillig immer mehr in ihren Bann gezogen.
Drake mochte um die dreißig oder vierzig, vielleicht sogar in den Fünfzigern sein. Ihre Haut schien alterslos, leuchtend blaß und seidig. Aber die dunklen, von einer fast quälenden Intelligenz gezeichneten Augen ließen vermuten, daß sie schon viel zuviel gesehen hatte. Ihre schönen dunklen Haare waren nach hinten gekämmt und kringelten sich im Nacken sanft über dem Kragen; ein paar widerspenstige Strähnen hingen ihr in die Stirn. Sie hatte eine schmale, gerade Nase, deren Flügel sich leicht blähten. Der Mund war fein geschwungen, die Zähne interessant durch ihre leichte Unregelmäßigkeit. Drake sah aus wie ein bezaubernder junger Mann - oder eine knabenhafte Frau von bestechender Schönheit.
Als Harper, angeregt durch den leicht melancholischen Ausdruck in Drakes Gesicht, den seidigen Glanz des dunklen Haars, diese starken und doch zarten Hände, bei sich selbst eine sexuelle Regung verspürte, machte sie sich sofort bewußt, daß Drakes Körper der Körper einer Frau war. Und sie hatte noch nie den Wunsch verspürt, eine Frau zu berühren oder von ihr berührt zu werden. Wäre Drake ein Mann ...
Sie rief sich den geduldig wartenden Niklaus in Erinnerung und fand es bei näherer Betrachtung nicht verwunderlich, daß Drake sich bei Aufenthalten in den Stationen in ihr Raumschiff zurückzog. Wo immer sie sich hinbegab, würden ihre eindrucksvolle Schönheit und ihre zweideutige sexuelle Ausstrahlung - unabhängig von der sexuellen Neigung des jeweiligen Beobachters - für Gesprächsstoff sorgen und Aufsehen erregen. Ebenso verständlich war es, daß Drake sich Harper auf Distanz hielt: Sie mußte längere Zeit mit einer Frau verbringen, an der sie nicht das geringste emotionale oder sexuelle Interesse hatte.
Harper stöhnte innerlich auf. Diese Reise würde sich endlos dahinziehen. Wenn sie die Mauer um diese Frau nicht irgendwie durchbrechen konnte, wenn es ihr nicht gelang, ihr klarzumachen, daß sie keinerlei Ansprüche an sie stellte, dann konnte sie gleich so tun, als wäre sie ganz allein in der Scorpio IV .
Sie räusperte sich. »Ich glaube nicht, daß ich mich jemals daran satt sehen werde.« Sie zeigte auf die Fenster. »Sie haben sich sicher schon daran gewöhnt.«
Drake drehte sich um und sah sie an. »Die Faszination hat niemals nachgelassen.«
Die Intensität der dunklen Augen schien plötzlich gefährlich, als könnte Harper in ihre Tiefen hinabgezogen und nie wieder losgelassen werden. Sie riß sich zusammen, wappnete sich gegen diese beunruhigende Frau und sagte: »Sie haben die Schiffsbibliothek sicher schon oft in Anspruch genommen.«
Ein Lächeln zeigte sich auf Drakes Gesicht. »Ich habe alles gelesen.«
Als Harper dann klar wurde, daß Drake entweder einen Witz gemacht oder aber nur das gelesen hatte, was sie interessierte, fand sie schnell ihre Fassung wieder und lächelte auch; im Bibliothekscomputer des Raumschiffs waren eine halbe Million Bücher gespeichert. Sie fragte: »Wie verbringen Sie Ihre Zeit? Was bereitet Ihnen Freude?«
»Was mir Freude bereitet«, wiederholte Drake. Erneut wandte sie sich ab, aber Harper wußte, daß sie über die Antwort nachdachte.
»Das bereitet mir Freude«, sagte sie schließlich und wies auf die Pracht jenseits der Fenster. »Ich höre gern Musik.« Sie drückte einen Knopf auf der Sessellehne, und augenblicklich fröstelte Harper
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