Anderer Welten Kind (German Edition)
handelt?“
Christian schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung“, sagte er, „irgendwas mit dem Hundertfünfundsiebziger. Reden doch alle drüber.“
„Eine Mutter will ihren Sohn retten, der einen anderen Mann liebt.“ Ein kurzer Blick auf Christian. „Deshalb verkuppelt sie ihn mit ihrem Hausmädchen. Der Junge ist gerettet und die Mutter wandert ins Gefängnis. Kuppeleiparagraf. Das in aller Kürze.“
„Ach so“, sagte Christian, „ich verstehe.“ Er nickte unterstützend mit dem Kopf.
„Aha“, sagte Ricky. „Du verstehst. Denkst du auch, dass man Homosexuelle retten kann?“ Er lächelte ein kleines verkniffenes Lächeln.
„Ich weiß nicht, ich habe darüber noch nicht nachgedacht.“
Als Ricky ihn direkt anschaute, setzte er nach.
„Ich weiß nichts darüber“, wiederholte er.
Obwohl, so ganz stimmte das nicht. Homosexuelle sind krank. Das war die einhellige Ansicht in den Häusern Lorenz und Kremer und Christian hatte bisher noch keinen Grund für sich entdeckt, das anders zu sehen. Aber auf solch ein Gespräch war er nicht gefasst und er wollte sich auf keinen Fall mit Ricky darauf einlassen. Er war sich im Klaren darüber, dass er im Grunde gar nichts wusste, außer dass ihn eine undefinierbare Ahnung und ein Angstgefühl beschlichen.
„Ich sag dir was. Das ist keine Krankheit, die man heilen kann. Das ist ein Gefühl, das man hat oder nicht. Bist du in deine Freundin verliebt?“
Als Christian nickte, fügte er hinzu: „Dann kennst du ja das Gefühl. So einfach ist das.“
Darauf wusste Christian gar nichts zu antworten. In das Schweigen, das folgte, sagte er: „Dein Freund hat auch gesagt, ich soll meinen Vater nach Jud Süß fragen. Was ist damit?“
„Wullenwever heißt mein Freund, einfach Wullenwever. Hast du deinen Vater nicht gefragt?“
Als Christian mit dem Kopf schüttelte, sagte Ricky: „Harlan hat einen Propagandafilm über die Juden gedreht, der viel zu dem Judenhass in Deutschland beigetragen hat. Ein schrecklicher Film. Erst gegen die Juden und dann gegen die Homos. Und so einer läuft frei herum. Da siehst du mal, in was für einer Zeit wir leben.“
Mit dem letzten Satz, der eher beiläufig geklungen hatte, konnte Christian nichts anfangen. War Ricky denn nicht froh, dass jetzt Demokratie herrschte? Wieso geriet alles, was Ricky sagte, in so ein komisches Licht? Er sprach in Rätseln. Christian konnte sich auf vieles, was Ricky sagte und machte, keinen Reim bilden.
„Dir hat also Horst Buchholz in Die Halbstarken gefallen?“ Ricky wechselte das Thema. Er fuhr fort: „Was denn daran?“
„Na, so wie die aussahen, so echt, und … und … sie haben sich nichts gefallen lassen.“
Das stimmte. Christian erinnerte sich, dass ihm am meisten die Anfangsszene im Schwimmbad imponiert hatte, als die Bande den Bademeister verprügelte. Und er spürte immer noch den Schrecken, als Sissy Freddy in den Bauch geschossen hatte. Der Film war so realistisch und Karin Baal spielte die Sissy so echt, dass Christian fast verliebt in sie war. Dass sie so kaltblütig geschossen hatte, hatte ihn zusätzlich verwirrt.
„Warte mal einen Moment, ich zeig dir was.“
Ricky verschwand aus der Küche, um einen Augenblick später mit der Zeitschrift Der Kreis an den Küchentisch zurückzukehren. Er blätterte suchend in dem Heft und murmelte: „Hier muss es doch sein. Ah, da ist es ja“, klappte es auf und hielt Christian die aufgeschlagene Seite hin.
Das schwarz-weiße Foto, das die halbe Seite ausfüllte, zeigte einen jungen Mann auf einem Motorrad. Das Foto war von vorn aufgenommen. Bekleidet war er mit einer Lederjacke mit hochgestelltem Kragen über einem karierten Hemd. Die Arme lagen entspannt über dem Lenker, die rechte Hand spielte mit dem Bremskabel, das mit einem schwarz-weißen Band umhüllt war. Eine Plastikummantelung, die Christian auch gern an seinem Rad gehabt hätte. Ein Fuß stand auf dem Boden, spitze Stiefelletten ließen ein Stück Socken zwischen Jeans und Schuh frei, der andere Fuß ruhte auf dem Kupplungspedal. Der junge Mann blickte direkt in die Kamera, seinen Mund umspielte ein angedeutetes Lächeln. Es war ein hübscher Mann. Die Elvisfrisur, an den Seiten nach hinten gekämmt, war wegen des dichten Haares kaum zu bändigen, lang schlug sie über den Kragen und die Ohren waren nicht ganz freigeschnitten. Die Tolle war tief in die Stirn gezogen und die Koteletten reichten bis an die Ohrläppchen.
Unter dem Foto stand: Halbstarker in Zürich, Foto:
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