Angst vor dem Blutbiss
schüchterne Frage zu stellen.
»Wer bin ich?«
»Ein Stück Vater…«
Die Antwort ging über ihr Begriffsvermögen. »Wieso ein Stück Vater? Ja, ich habe einen Vater…«
»Ich rieche sein Blut…«
»Wieso?«
»Es fließt in dir.«
Plötzlich war es für Susan ganz einfach. Alles reduzierte sich auf den Vampir und sie. Selbst die Umgebung wurde kleiner, sie rückte enger zusammen, und so konnte sie eigentlich nur einen bestimmten Ausschnitt erkennen, denn alles, was dahinter lag, verschwamm in einem braungrauen Halbdunkel.
»Hast du meinen Vater gekannt?«
Er kicherte. »Und wie ich ihn gekannt habe. Hier war er, hier war er als Schüler und…«
Sie hörte ihn sprechen, aber sie verstand ihn nicht. Ihre Gedanken waren weit, so schrecklich weit fort. Sie tobten durch ihren Kopf, aber sie gingen auch hinaus. Sie waren so fern, und sie kehrten wieder zurück.
Susan sah das Bild ihres Vaters vor sich. Seinen lächelnden Mund.
Manchmal den Spott in seinen Augen. Sie sah, wie sie Eis essen gingen, wie er mit ihr im Schwimmbad war, und das Gesicht des Vaters verschwamm plötzlich, als wären es Stücke, die jemand interwallweise wegzog.
Es machte einem anderen Platz.
Einem real existierenden.
Der Vampir glotzte sie an.
Offen stand sein Mund, die Zähne schimmerten, er gab ein schlürfend klingendes Geräusch von sich, als er dabei flüsternd eine einzige Frage stellte. »Hast du begriffen?«
Ja, sie hatte es.
Jetzt hatte Susan es begriffen. Auf einmal war alles anders geworden.
Der Bann war gebrochen, dieser Vampir war für sie… war für sie… sie haßte ihn.
Sie hatte Angst!
Weit öffnete Susan den Mund.
Der Schrei drang nur für den Bruchteil einer Sekunde hervor, dann erstickte ihn eine kalte, nach Moder riechende und nach Staub schmeckende Totenhand.
Mit dem Hinterkopf prallte sie gegen den harten Grabstein. Unter der würgenden Hand hörte sich Susannes Geräusch wie ein grunzendes Würgen an. Die andere Hand packte zu. Finger krallten sich in ihr blondes Haar. Der Griff war für den Vampir ideal.
Er zog ihren Kopf vor.
Dann stieß er ihn wieder zurück.
Mit dem Hinterkopf prallte Susan gegen den Grabstein. Sie verlor sekundenlang die Besinnung, war aber schnell wieder klar, nur konnte sie sich nicht mehr wehren.
Der Vampir hatte sich bereits nach vorn gebeugt. Er flüsterte mit knarrender Stimme: »Das Blut deines Vaters… das Blut deines Vaters… auf Umwegen gelangen Teile zu mir. Ich bekomme sie. Ich kriege auch das andere Blut in meinen Körper. Ich hole alles nach… alles…«
Susan Carrigan hatte schreckliche Angst vor dem Blutbiß. Aber niemand war da, der ihr diese Angst nahm und sie von dem Vampir befreite.
Er biß zu!
Zwei Zahnspitzen schlugen in Susans Hals, aber der Schmerz war nur einmal spürbar. Ein hartes Zucken, als wäre sie von einem besonders widerlichen Insekt gestochen worden.
Noch war die Haut warm, noch lebte sie. Und nie zuvor hatte Susan derartig kalte Lippen an ihrer Haut gespürt.
Lippen, die sich festsaugten, die ruckten. Zähne, die sich noch tiefer bohrten und dabei zielsicher ihre Ader erwischt hatten.
Das Blut sprudelte.
Der Vampir grunzte auf.
Es tat ihm so gut, aber es war nicht nur die Tatsache an sich, daß er das Blut trank. Er stellte sich vor, daß jemand anderer unter ihm lag. Ein Mann namens Carrigan, einer seiner drei Todfeinde, die auch noch an die Reihe kommen würden.
Sie würden erfahren, was mit ihren Töchtern geschehen war. Und während er trank, malte er sich aus, wie die Männer reagieren würden, wenn sie plötzlich mit ihren Töchtern und seinen Bräuten konfrontiert wurden…
***
Hier sollte ein Vampir leben?
Nein, niemals. Das war gar nicht möglich, das war einfach nicht wahr, nicht in dieser herrlichen Alpengegend, dessen Panorama mir zwar nicht gerade den Atem verschlug, aber ich mußte einfach in die Runde schauen, als ich neben dem Leihwagen stand, der ebenso wie ich seinen Platz vor dem Hotel ›Des Alpes‹ gefunden hatte.
Eine Landschaft zum Verlieben.
Im Osten und Süden das Hochgebirge. In der Ferne schimmerten bei diesem klaren Licht die Eisgletscher des Mont Blanc Massivs. Im Norden sah ich einen Teil des Genfer Sees, der wie ein grünschwarzes Auge wirkte.
Ich sah auch zahlreiche Orte, die sich am Ufer des Sees ausbreiteten.
Namen schwirrten mir durch den Kopf. Genf. Lausanne, Montreux.
Ich aber stand oberhalb, umgeben von einer herrlich klaren Bergluft und natürlich auch umweht von einem
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