Angstschrei: Thriller
Reiseföhn. Er entdeckte eine der beiden Steckdosen, die es im Zimmer gab, und rückte einen Holzstuhl zu sich heran. Dann zog er Schuhe und Strümpfe aus. Seine Zehen waren zwar vollkommen taub, aber sie sahen nicht so gefroren aus wie der Arm des Jungen. Das wertete er als gutes Zeichen. Er steckte den Föhn ein und blies warme Luft auf seine Füße. Es fühlte sich nicht gut an. Nach wenigen Sekunden schon fingen seine Zehen an, schweinemäßig wehzutun. Ob es in den Vorschriften des Portland Police Department wohl einen Absatz über die Diensttauglichkeit gab, im Fall, dass er ein, zwei Zehen verlieren sollte? Er sagte sich, dass es langsam Zeit wurde, sich vernünftige Klamotten für den Winter in Maine zu besorgen. Manhattan war lange her und weit, weit weg.
Nach einer halben Stunde vorsichtigen Grabens kam langsam die gefrorene Leiche eines Jungen im Teenageralter zum Vorschein. Er lag auf der Seite und war nackt. Die beiden Arme waren über und über mit Tätowierungen bedeckt. In der Haut über seinem rechten Auge sowie entlang seiner Unterlippe steckte je eine ganze Reihe silberner Ringe. Noch im Tod besaß er das süße, engelsgleiche Gesicht eines Kindes. McCabe fühlte sich an Edward Mullaney erinnert, den missbrauchten Ministranten, den er vor so vielen Jahren einmal gekannt hatte. Den Ministranten, der mittlerweile ein rechtskräftig verurteilter Pädophiler und Vergewaltiger war. Und so setzte der Teufelskreis der Sünde sich immer weiter fort, dachte McCabe, wanderte wie ein Virus von Täter zu Opfer, von Generation zu Generation.
Die verschiedenen Eisschichten, die den Leichnam umhüllten, brachten McCabe zu dem Schluss, dass der Junge vor drei Schneefällen begraben worden war. Er stand zwischen Fortier und Terri und sah zu, wie die Kriminaltechniker den freigelegten Körper fotografierten. » Wir können mittlerweile Elaine Goffs Gliedmaßen bewegen«, sagte Terri.
» Und?«
» Ich glaube, dass sie sexuell gefoltert worden ist. Wir haben im Bereich ihrer Vagina Brandwunden entdeckt.«
McCabe schloss die Augen und stieß einen tiefen Seufzer aus. Was hatte Kelly bloß dazu getrieben, so etwas zu tun? Es war so schwer, sich diesen Mann als Sadisten vorzustellen. Sobald man zu wissen glaubt, wer oder was John Kelly ist, kommt der Punkt, an dem man seine Meinung noch einmal ganz genau überdenken muss.
» Was ist mit den blauen Flecken, die uns schon aufgefallen sind, als sie noch im Kofferraum gelegen hat?«
» Ich gehe davon aus, dass es sich um ältere Prellungen handelt. Wahrscheinlich hat sie sich gewehrt, als er sie angegriffen hat. Danach hat er sie dauerhaft unter Drogen gesetzt, bis auf die Zeiten vielleicht, in denen er sie gefoltert hat. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie zum Zeitpunkt ihres Todes stark narkotisiert war, aber genau wissen wir das erst nach der toxikologischen Untersuchung.«
» Sonst noch was?«
» Nein. Keine Fasern oder Hautpartikel unter den Fingernägeln, und abgesehen von den Brandspuren ist der ganze Körper makellos sauber. Könnte sein, dass er sie gebadet hat, bevor er sie umgebracht hat.«
Vielleicht hatte er sie ja deshalb ins Haus der Markhams geschafft, dachte McCabe. In Kellys Hütte gab es ja weder Heizung noch Wasser. Aber dort war beides reichlich vorhanden– und, wie Markham selbst gesagt hatte, die halbe Insel kannte das Schlüsselversteck.
Als die Kriminaltechniker fertig waren, ging Terri neben der Grube mit dem Leichnam in die Knie und begann mit ihrer vorläufigen Untersuchung.
» Da haben wir’s. Er ist auch mit einem Stich in den Nacken getötet worden«, sagte sie. » Außerdem deutlich sichtbare Blutergüsse sowie Blutungen und Risse in der Haut rund um das Rektum.«
» Harter Sex?«
» Ich weiß nicht. Kann sein. Entweder das oder…«
Terri unterbrach sich. Sie sah alles andere als fröhlich aus.
» Oder was?«
» Ich glaube, unser Freund hatte seinen Spaß daran, scharfe Objekte in Öffnungen einzuführen, in denen sie nichts zu suchen haben.«
McCabe verzog das Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse. Noch einmal dröhnten ihm Lainie Goffs Worte durch den Kopf. Ich weiß genau, was du getan hast, du Arschloch. Damit kommst du nicht durch, das garantiere ich dir. Nur leider hatte Kelly sie zu fassen bekommen, bevor sie ihn hatte fassen können. Aber zumindest in einem Punkt hatte sie recht behalten. Er würde damit nicht durchkommen.
34
Portland, Maine
Am Sonntagmorgen um exakt 8.30 Uhr lieferte McCabe Maggies
Weitere Kostenlose Bücher