Angstspiel
über den Zaun und hat nebenan die Maulwurfhügel aufgewühlt. Vielleicht hat er dabei was von dem Dünger gefressen.«
»Meinst du echt, er ist mit Dünger vergiftet worden? So giftig kann das doch gar nicht sein, wenn man das Zeug einfach so im Garten verteilen darf.«
Sie zuckt mit den Schultern. »Ich glaube das ja auch nicht wirklich. Aber ich weiß auch echt nicht, was es sonst gewesen sein könnte. Wenn ich mit Ali unterwegs war, ist der immer dicht neben mir geblieben. Ich hätte es gemerkt, wenn er was ins Maul genommen hätte.«
Sie hebt plötzlich den Kopf. »Oder hast du was beobachtet, als du neulich mit ihm unterwegs warst? Wo wart ihr eigentlich?«
»Wir waren nur ganz kurz im kleinen Wäldchen.«
Es klingelt und mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich weiß, dass ich Julchen durchaus was verschweigen kann. Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich sie auch eiskalt belügen könnte, wenn es sein müsste.
Während der Deutschstunde versuche ich mich zu beruhigen. Wenn ich Julchen jetzt von meiner Vermutung erzähle, dass Ali vorsätzlich von Kaktus - also von ihrem Ghostwriter - umgebracht worden sei, wird sie ihn sich im Chat sofort krallen, ihn beschimpfen. Dann taucht er natürlich wieder ab. Dann entwischt er uns und kann in aller Seelenruhe weitermachen. Das darf nicht passieren. Ich muss die Wahrheit eintauschen gegen die Hoffnung.
Ich erschrecke mich total, als mein Opa sich hinter mir räuspert. Ich stehe in unserer kleinen Küche und koche mir einen Baldriantee. Der soll beruhigen, und Ruhe ist genau das, was ich in meinem Kopf jetzt brauche. Wie ein Mantra wiederholen sich zwei Sätze in meinem Kopf. »Ali ist tot. Und ich bin schuld daran«. Ich habe es echt geschafft, Julchen heute in der Schule auszuweichen. Das ist nicht so schwer. Sie ist nie alleine eigentlich. Da kann man sich gut wegducken. Ich hatte Schiss, dass sie das Thema Ali noch mal aufgreift und ich mich dann nicht halten kann.
Mein Opa holt sich seine fiese grobe Leberwurst aus dem Kühlschrank. Der Geruch steigt mir unangenehm in die Nase. Warum essen alte Leute so ein Zeug?
»War das am Samstagabend eigentlich dein Freund?«, fragt er vorsichtig.
Ich drehe mich erstaunt zu ihm um. Es ist eigentlich gar nicht seine Art, solche Fragen zu stellen. Samstagabend? Ich überlege, was er meint. Ach, Philipp, der mich nach Hause gebracht hat. Er kam noch kurz mit rein, weil
ich ihm für Julchen die Englisch-Hausaufgaben mitgeben wollte.
»Das war doch der Bruder von Julchen«, sage ich und wundere mich. Eigentlich hat er Philipp doch schon mal gesehen. Ich beobachte, wie er sich einen Löffel aus der Schublade nimmt. Es dauert ein bisschen. Er guckt den Löffel an, die Brotscheibe, die Wurst. Ganz langsam legt er den Löffel zurück, greift nach einem Messer.
»Er kann ja Julchens Bruder und dein Freund sein«, sagt er gedankenverloren. Da hat er natürlich recht.
»Er ist nur Julchens Bruder«, antworte ich und werde leicht rot. Ich bin nicht verliebt in Philipp. Aber allein die Tatsache, dass irgendjemand annimmt, Philipp wäre mein Freund, finde ich peinlich. Als ob sich so ein Typ auch nur annähernd für ein verhuschtes Mädchen wie mich interessieren würde.
Ich trinke einen Liter Baldriantee und mein Herz ist immer noch im Fast-Forward-Modus. »Ali ist tot. Und ich bin schuld daran. Ali ist tot. Und ich bin schuld daran. Ali ist tot. Und ich bin schuld daran.« Vielleicht komme ich auch nicht zur Ruhe, weil ich andauernd pinkeln muss. Als ich das dritte Mal gehen will, hält mein Opa gerade eine Sitzung da ab. Das kann dauern. Ich renne schnell ins Bad oben und treffe auf Luise. Sie hat etwas Weißes im Gesicht und sieht furchterregend aus.
»Machst du gerade einen Gipsabdruck?«, frage ich geistesabwesend und lasse mich auf der Toilette nieder. Es gibt sonst niemanden, vor dem ich pinkeln würde.
»Gipsabdruck? Das ist eine Schönheitsmaske.«
Da muss ich lachen. Richtig laut. Ich hatte fast vergessen, wie das klingt.
»Schönheitsmaske?«, japse ich und betone das Wort »Schönheit«. »Du siehst eher so aus, als hättest du eine
schlimme Gesichts-OP hinter dir und noch die Mullbinden da kleben«, sage ich und halte mir die Seite. Ist es lachen oder ist es weinen? Jetzt nur nicht hysterisch werden.
Sie kneift ihre Augen zu Schlitzen zusammen. Rechts und links bilden sich feine Risse.
»Vorsicht. Das Kunstwerk bröckelt«, sage ich noch nach Luft japsend und habe gleich wieder ein beklemmendes Gefühl.
Weitere Kostenlose Bücher