Animus
Caroline und Charlie verabschiedeten mich, traurig und ängstlich. Dann fuhr ich los, machte wieder die gleiche Kaffeefahrt wie vor wenigen Tagen. Oder waren es Wochen? Ich verliere in Colorado immer das Gefühl für die Zeit. Dort im Tal scheint sie stillzustehen oder zumindest in einem ganz anderen Rhythmus voranzugehen als in der Großstadt. Die Wälder atmen den ganzen Tag lang einen tiefen, tiefen Atemzug ein. Die Nacht über atmen sie langsam aus. Sie öffnen ihre Äste am Morgen und umspannen den Tag. Nachts schließen sie die Arme und bergen das Licht. In den Wäldern wird man getragen vom weiten, starken, ruhigen Atemzug der Bäume. Sanft gewogen wie auf dem Stillen Ozean bei ruhiger See. Die Stadt hingegen keucht, hustet, hyperventiliert. Ein, aus, schneller, schneller. Beschleunigter Puls, tausend Reize in einem Augenaufschlag, Nasenflügelbeben und Ohrenaufsperren – ein berauschendes Sensorround-Kino. Ich weiß nicht, was ich lieber mag. Der Wald ist echt, er ist wahr. Die Stadt, sie ist wirklich. So verdammt wirklich, dass es wehtut, richtig weh, sie zu sehen, zu riechen, zu schmecken, zu berühren. In den Städten ist das Leben vom Tod gezeichnet. Jederzeit und überall. Die Stadt ist Siechtum. Ein Moloch. Mit seinen kaputten Gestalten, röchelnden Zombies, die ihren eigenen Verwesungsgeruch nicht wahrnehmen. Ein morbides Kunstwerk. Nicht wie diese Ansammlungen von Tankstellen und Diners, die ich immer noch durchquerte. Öde Käffer, die als einzige Taktik gegen ihren Scheintod den Wettbewerb um den schönsten Vorgarten im County erfunden hatten.
Kurz hinter Indianapolis hielt ich an und mietete mich in einem Motel ein. Es war eines dieser überall gleichen Motels mit den ewig gleichen schwindsüchtigen, übellaunigen Angestellten hinter dem Empfangstresen, den ewig gleichen cremefarben lackierten Wänden, der müffelnden Bettwäsche und den riesigen Kakerlaken im feucht-schimmligen Badezimmer. Ich wusch mich nur kurz, putzte die Zähne, spie angewidert das nach Chlor stinkende Wasser aus und legte mich in meinen Klamotten aufs Bett. Ich hatte schon schlimmer gewohnt. Morgen würde ich bis Washington durchfahren, in einem besseren Hotel einchecken und mir dort den Schmierfilm der Reise abduschen. Dann würde ich Pete treffen. Ich würde erfahren, was mit Ev geschehen war. Und dann … Man würde sehen.
18. New York, New York
Rebecca Winslow, 25, Sensor Stufe 4
Tagebucheintrag: Heute fühle ich mich prima. Mein erster Einsatz. Klar war ich total platt, dass der General ausgerechnet mir den Yonkers-Auftrag erteilt hat. Er will mir ’ne Chance geben, hat er gesagt. Ist doch nett von ihm. Nur Tina, die musste sich wieder höllisch aufregen! Ist einfach zu Walcott gegangen und hat mich angeschwärzt. Sie glaubt, dass ich noch nicht so weit bin, dass sie es besser selbst macht. Oder Jessica. Oder sonst jemand, nur nicht ich. So eine blöde Scheiße. Schließlich bin ich mit der verfickten Tina in den letzten Wochen die ganzen verkackten Differenzierungen, meinen kompletten beschissenen Reaktionskatalog hundertmal durchgegangen. Ich habe kein einziges Mal gekotzt! Ich bin mir meiner Sache absolut sicher. Schließlich hat dann sogar Tina ihre blöde Fresse gehalten. Wahrscheinlich hat sie sich sowieso nur eingemischt, weil sie gedacht hat, wenn sie den Job macht – gut macht –, dann wäre vielleicht ’ne sofortige Freistellung für sie drin. Die Pissnelke gönnt mir den Auftrag nicht, genauso wenig, wie die anderen ihn mir gönnen. Ann und Karen waren auch verdammt scharf darauf, mal aus dem Lager rauszukommen. Nach New York! If I can make it there, I’ll make it anywhere …
Seit gestern Abend singe ich vor mich hin. Ich kann verdammt gut singen. Wäre gerne Sängerin geworden. Oder Schauspielerin. Oder beides. Ich fühle mich super. Heute Morgen um acht Uhr bin ich von einem kleinen Militärflugzeug in Roswell abgeholt worden. Robert, mein Schatten, hat mich persönlich angeschnallt, als wär ich so ’ne super wertvolle Fracht. Bin ich wohl auch. Der Arsch war ausnahmsweise total nett zu mir. Hat mir Tomatensaft gebracht.
Da saß ich dann im Flugzeug und hab ein bisschen geträumt. Das geht gut im Flugzeug, wenn das so angenehm leicht rüttelt. Da bin ich dann aus meinem beschissen grauen Leben geschlüpft, hab meine bunten Flügel gespreizt und mich in einen Hollywoodstar verwandelt, der zur Oscar-Verleihung jettet. Das Diamantencollier in der perlenbesetzten Schmuckschatulle, Paillettenkleid
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