Anita Blake 02 - Bllutroter Mond
Scharfrichter. Warum also gehörte mein Mitgefühl immer den Opfern? Und warum brachte mich die Verzweiflung in Wandas Augen mehr dazu, Gaynor zu hassen, als alles, was er mir antun konnte?
Ja, warum?
26
Das Telefon klingelte. Ich bewegte nichts außer den Augen, um auf die Nachttischuhr zu gucken. 6:45 Uhr. Scheiße. Ich lag da und wartete im Halbschlaf, dass der Anrufbeantworter ansprang.
»Hier ist Dolph. Wir haben wieder einen gefunden. Rufen Sie meinen Piepser an ...« Ich tastete nach dem Telefon und warf dabei den Hörer herunter. »Hallo, Dolph. Bin zu Hause.«
»Spät geworden?« »Ja, was gibt's?« »Unser Freund ist zu dem Schluss gekommen, dass Einfamilienhäuser leichte Beute sind.« Er klang rau und nach Schlafmangel. »Oh Gott, nicht noch eine Familie.« »Fürchte, doch. Können Sie rauskommen?«
Das war eine dumme Frage, aber ich ritt nicht darauf herum. Mir war das Herz in die Hose gerutscht. Ich wollte keine Wiederholung des Reynoldschen Hauses. Ich glaubte nicht, dass ich das aushalten könnte.
»Geben Sie mir die Adresse. Ich werde kommen.« Er nannte die Adresse. »St. Peters«, sagte ich. »Das ist dicht bei St. Charles, aber ...« »Aber was?« »Das ist ein weiter Weg. Es gibt genügend solcher Häuser in St. Charles. Warum läuft er so weit, nur um zu fressen?« »Das fragen Sie mich?«, sagte er. Da klang so etwas wie ein Lachen an. »Kommen Sie hierher, Sie Voodooexpertin. Schauen Sie sich an, was es hier zu sehen gibt.«
»Dolph, ist es so schlimm wie im Haus der Reynolds?« »Schlimm, schlimmer, am schlimmsten von allem«, sagte er noch mit dem Anflug eines Lachens. Aber da klang noch etwas an, eine gewisse Härte und Selbstverurteilung. »Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte ich. »Sagen Sie das den hohen Tieren. Die schreien nach einem Sündenbock.« »Haben Sie den Durchsuchungsbefehl?« »Ich kriege ihn heute am späten Nachmittag.« »Niemand kriegt einen am Wochenende«, grübelte ich.
»Spezieller Panikmodus«, erklärte Dolph. »Machen Sie, dass Sie herkommen, Anita. Hier wollen alle nach Hause.« Er hängte ein. Ich sagte nicht Auf Wiedersehen.
Noch ein Mord. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Scheiße hoch drei. Das war nicht die Art, wie ich den Samstagmorgen verbringen wollte. Aber wir bekämen unseren Durchsuchungsbefehl. Hurra. Das Problem war, dass ich nicht wusste, wonach ich suchen sollte. Ich war eigentlich kein Voodoofachmann. Ich war Fachmann für übernatürliche Verbrechen. Das war nicht dasselbe. Vielleicht sollte ich Manny bitten mitzukommen. Nein, nein, ich wollte ihn nicht in die Nähe von Dominga Salvador bringen, für den Fall, dass sie beschloss, ihn der Polizei ans Messer zu liefern. Bei Menschenopfern gibt es keine Verjährung. Manny konnte noch immer dafür in den Bau kommen. Es wäre Domingas Stil, meinen Freund gegen ihr Leben einzutauschen. Was dann genauer betrachtet mein Fehler wäre. Ja, das würde ihr gefallen.
Die Nachrichtenanzeige blinkte. Warum war mir das in der Nacht entgangen? Ich zuckte die Achseln. Eines der Mysterien des Lebens. Ich drückte den Abspielknopf.
»Anita Blake, hier ist John Burke. Ich habe Ihre Nachricht erhalten. Sie können mich jederzeit anrufen. Ich bin gespannt zu hören, was Sie haben.« Er nannte die Telefonnummer, und das war alles.
Großartig, ein Mordschauplatz, ein Besuch im Leichenschauhaus und eine Tour durch Voodooland, alles an einem Tag. Der Tag würde unangenehm und arbeitsreich werden. Er schloss sich perfekt an die vorige Nacht an und an die vorgestrige Nacht. Scheiße, ich hatte eine echte Glückssträhne.
27
Ein Streifenpolizist stand über eine von diesen elefantengroßen Mülltonnen gebeugt und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Schlechtes Zeichen. Auf der anderen Straßenseite parkte ein U-Wagen vom Fernsehen. Ein noch schlechteres Zeichen. Ich wusste nicht, wie Dolph die Zombiemassaker so lange aus den Nachrichten hatte heraushalten können. Andere Ereignisse mussten die Reporter förmlich angesprungen haben, dass sie eine so mühelose Schlagzeile nicht berücksichtigten. ZOMBIE MASSAKRIERT FAMILIE. ZOMBIEMASSENMORDER AUF FREIEM FUSS. Himmel, das würde etwas geben.
Das Kamerateam mit kompletter Mikrofonausrüstung beobachtete mich, wie ich auf das gelbe Absperrband zuging. Als ich mir die Plastikkarte an den Kragen heftete, rückte es wie ein Rudel an. Einer in Uniform hielt das Absperrband für mich hoch, die Augen immer auf die
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