Anna Strong Chronicles 05 - Blutrotes Verlangen
selbst noch nicht ganz aus der Sache heraus.« Ihre Augen weiten sich. Dann wendet sie sich abrupt ab und geht zum Schreibtisch. Mir bleibt kaum genug Zeit, mich hinter den Empfangstresen zu ducken, um Deckung vor dem Spiegel zu suchen. Ich fummele an meinen Schnürbändern herum, bis ich sie wieder an den Tresen kommen höre. Als ich mich aufrichte, blättert sie in einer Rollkartei. Sie zieht eine Karte heraus und reicht sie mir.
»Das ist die Adresse, die wir von Jason haben. Wird die Firma auch ganz sicher aus der Sache herausgehalten, wenn Sie ihn festnehmen? Mein Chef bringt mich um, wenn ich ihm das verschweige und dann etwas schiefgeht.«
Ich hebe die rechte Hand. »Sie haben mein Wort darauf.« Und jetzt nichts wie raus hier, ehe sie allzu lange über meine Geschichte nachdenkt oder sich umdreht und in diesen riesigen Spiegel schaut.
Ich bin schon fast an der Tür, als sie mir nachruft, ich solle warten. Ich erstarre. Scheiße. Ich drehe mich halb zu ihr um, bereit zur Flucht.
Aber sie sieht mich an, nicht den Spiegel. »Wenn Sie Jason festnehmen«, sagt sie, »könnten Sie ihn vielleicht dazu bringen, die Magnetschilder zurückzugeben? Für die Fahrzeuge. Die Dinger kosten uns fünfzig Dollar pro Stück.«
»Selbstverständlich.«
Als ich wieder im Auto sitze, stoße ich die Luft aus und sehe mir die Karte an. Die Adresse ist hier in Chula Vista, aber am anderen Ende des Vororts. Da die Straßen immer noch regennass sind, umfahre ich den Freeway und halte mich an die normalen Straßen. So brauche ich vielleicht ein bisschen länger, aber noch mehr Frust im Stau könnte ich nicht ertragen. Die Adresse gehört zu einem Apartmenthaus an der H Street, direkt an der Grenze zwischen Chula Vista und San Diego County. Der Freeway ist ganz nah, und im Hintergrund ist das ständige Dröhnen des schnellen Verkehrs zu hören. Durch den Regen klingt es gedämpft und rhythmisch, beinahe wie das Meer am Strand hinter meinem Haus.
Das ist jedoch nur eine romantische Illusion. Das Mietshaus ist ein Dreckloch. Es erinnert mich an die Bruchbude, in der Trish mit ihrer Mutter gewohnt hat. Das Gebäude könnte vom selben Bauunternehmen sein. Es ist gedrungen, zweistöckig und hat ein Flachdach. Die Fassade müsste dringend neu gestrichen werden. Teerplatten krümmen sich wie vertrocknete Blätter, so dass man die Dachpappe darunter erkennen kann. Es würde mich nicht wundern, wenn die Bewohner des obersten Stocks des Öfteren hastig Töpfe und Schüsseln verteilen, weil es von der Decke tropft.
Jasons Wohnung liegt im Erdgeschoss. Ich gehe vorsichtig über den Hof voller Glasscherben und Fastfood-Verpackungen. Seine Tür weist eine unlackierte Stelle auf, als wäre sie eingetreten und dann nur mit einem Stück aufgenageltem Sperrholz geflickt worden. Mehr Reparatur war wohl nicht drin, aber es wirkt passend. Alles andere hätte das vermüllte Ambiente ruiniert.
Vor der Tür bleibe ich stehen und lausche. Erst höre ich nur Musik – sowohl die Lautstärke als auch das Genre überraschen mich. Es ist sanfter Jazz, ziemlich leise abgespielt. Ich hätte eher so etwas wie ohrenbetäubenden Heavy-Metal-Krach erwartet.
Dann höre ich Stimmen. Zwei, männlich und weiblich. Der Mann klingt, als wollte er sein Gegenüber zu etwas überreden. Ich brauche eine Sekunde, bis ich begreife, zu was. Dann ramme ich die Schulter gegen die Tür und sprenge sie auf.
Kapitel 35
Ein Vampirgesicht wie das von Jason Shelton habe ich noch nie gesehen. Die Pupillen seiner Augen sind nicht katzenartig geworden wie meine, sondern Hornhaut und Lederhaut verlaufen miteinander, bis überhaupt kein Weiß mehr zu sehen ist – als schaute man in zwei schwarze Murmeln. Er hat zwei nadelartige Reißzähne, die über seine Unterlippe hinausragen. Mit der rechten Hand umklammert er irgendetwas. Sein Gesicht sieht ganz normal aus, bis auf die Reißzähne und die seltsamen Augen.
Wir starren einander einen Moment lang an, und er wirkt ebenso schockiert über mein Aussehen wie ich über seines. Der Raum wird allein von dem Licht erhellt, das durch die geborstene Tür hereinfällt. Schwere Verdunkelungsvorhänge bedecken das Fenster. Anscheinend befinden wir uns im Wohnzimmer, doch die einzigen Möbelstücke sind ein Bett und eine Kommode. Die Musik kommt aus einem kleinen Radio auf der Kommode, danebenliegen ein halbes Dutzend Kondome.
Seit wann benutzen Vampire denn Kondome? Es riecht hier drin stark nach Sex. »Jason Shelton?«, frage ich. Das
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