Anna Strong Chronicles 06 - Gesetz der Nacht
übersetzt hat. Die Blätter in seiner Hand sind sauber, ohne Bierflecken. Er muss seine Notizen neu ausgedruckt haben, als er zu Hause war, um sich umzuziehen. Ich stütze das Kinn auf die Handfläche. »Wie hast du das eigentlich übersetzt, Frey? Hast du den vampirischen Rosettastein gefunden oder so?«
Er tippt sich mit dem Finger an die Schläfe. »Alles hier drin. Das gehört zur Bewahrer-Linie. Die Fähigkeit, die Bedeutung von Wörtern zu erkennen, ganz gleich, in welcher Sprache sie geschrieben sind.«
»Es ist also nicht wie die anderen Bücher in deiner Bibliothek?«
»Nein. Dieses Buch würde ich nicht verleihen. Es ist unersetzlich. Die anderen gehören der übersinnlichen Gemeinschaft genauso wie mir. Jeder Übernatürliche kann in meiner Bibliothek ein Buch lesen. Aber die Geheimnisse dieses Buches enthüllen sich nur einem Bewahrer.«
Das ist eine ganz neue Seite an Frey, von der ich bisher nichts geahnt habe: dass er ein Bewahrer ist. Und einen Sohn hat. Dinge, denen ich nachgehen werde, falls ich das hier überleben sollte. Ich schiebe düstere Gedanken an die einzige Alternative beiseite und konzentriere mich aufs Zuhören. Frey spricht jetzt darüber, wer wahrscheinlich zu der Zeremonie kommen wird. »Wir können davon ausgehen, dass ein Repräsentant von jedem der dreizehn Stämme anwesend sein wird, und sicher wird jeder von ihnen noch ein, zwei Botschafter mitbringen. Außerdem Judith Williams und ihr Gefolge.«
Da kommt mir ein Gedanke, und ich kann gar nicht fassen, dass ich nicht schon längst daran gedacht habe. »Ist Judith die Repräsentantin von Nordamerika?«
Frey lacht. »Wohl kaum. Sie bildet sich offenbar ein, sie spiele eine besondere Rolle, weil ihr Mann sich so engagiert hat. Aber sie ist nicht mehr als ein geladener Gast.«
Und vermutlich Sponsorin meines Herausforderers. Frey spricht es nicht aus, aber ich weiß, was er denkt. Wir vermuten beide dasselbe: Falls es zu einer Herausforderung kommen sollte, steckt ganz sicher sie dahinter, so unwahrscheinlich das auch klingen mag.
»Wer repräsentiert dann die nordamerikanischen Vampire?« Das Ganze hört sich nach einem Gipfeltreffen hochrangiger Politiker an, dabei ist es nur die Zusammenkunft von ein paar einflussreichen alten Vampiren. Wenn ich nicht so direkt betroffen wäre, fände ich es schlicht absurd.
Frey sieht in seinen Notizen nach. »Joshua Turnbull aus Denver.«
Bei dem Namen fahre ich hoch. »Bist du sicher?«
Frey schaut noch einmal nach. »Ja. Warum?«
»Weil das der Vampir ist, der mir bei der Suche nach Sophie Deveraux geholfen hat.« Frey macht ein überraschtes Gesicht. Sophie Deveraux war die Hexe, die mitgeholfen hat, ihm das Leben zu retten, als er unter dem Zauber der schwarzen Hexe Belinda Burke stand – Sophies Schwester.
Ich nicke. »Und er war ein guter Freund von Avery und Williams. Wir können also annehmen, dass er mir nicht sonderlich gewogen ist. Wir sind nach der Begegnung damals freundlich auseinandergegangen, aber Turnbull war froh, mich los zu sein.« Ich halte inne und denke zurück. »Er hat gar nicht erwähnt, wer er ist. Er hat sogar betont, wie wichtig es sei, dass Vampire sich in der umgebenden Gesellschaft unauffällig verhalten.«
Frey zuckt mit den Schultern. »Das tut er sicher auch. Niemand aus der übernatürlichen Gemeinschaft, schon gar nicht die Mächtigen, möchte Aufmerksamkeit auf sich ziehen.«
»Aber fordern die nicht irgendeine Art von Tribut? Was ist denn der Witz daran, König zu sein, wenn die eigenen Untertanen nichts davon wissen?«
Er lacht über den Vergleich. »Vampire, vor allem alte Vampire, brauchen keinen Tribut. Aber wahrscheinlich wusste er, wer du bist. Er wird es gespürt haben, genau wie Williams und Avery. Vergiss nicht, wenn das hier vorbei ist, wird er deiner Führung unterstehen.« Er klingt zuversichtlich. Ich bin mir da nicht so sicher. Ich bin davon ausgegangen, dass Judith Williams die Herausforderung arrangieren würde. Jetzt weiß ich, dass es mindestens einen weiteren Vampir gibt, der durch mich einen Freund verloren hat. Joshua Turnbull.
»Okay, mal angenommen, ich überlebe die Festlichkeiten, was passiert dann?«
»Es folgt eine Einsetzungszeremonie. Dann kann jeder, der eine Beschwerde oder ein Gesuch hat, sein Anliegen vorbringen. Du wirst dir die Argumente anhören. Du wirst ein Urteil fällen. Dann ist es vorbei, und alle gehen nach Hause.«
Das klingt zu einfach. Schon von der Art, wie Frey meinem Blick ausweicht,
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