Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
nach Luft schnappen, „hatte Scharta mir das erzählt. In diesem Labyrinth sind die Drachenseelen untergebracht. Sie geistern durch die endlosen Gänge und bringen jeden um, der sich hierher traut. Vielleicht denken sie, dass niemand, außer der Grausamen und ihrer Handlanger, hierher kommen würde, oder sind sie wegen ihres Schicksals erbost und verbittert, keiner weiß es so genau. Jedenfalls heißt es, man sollte es vermeiden, ihnen zu begegnen. Sie dürfen einen auch nicht berühren. Man sollte also zusehen, dass es nicht dazu kommt. Sonst reißen sie die Seele des Unglücklichen aus seinem Körper und sie wird dann für immer der Schar der Drachenseelen durch die Gänge folgen.“
„Ein gruseliges Märchen“, grinste Ian. „Die Umgebung passt dafür einfach perfekt. Und so etwas habe ich noch nie gehört.“
Anna schnappte wieder nach Luft. „Das ist nicht gerade lustig. Wenn die Drachenseelen jetzt um die Ecke kommen, dann wäre es uns dringend angeraten, sich so anzustellen, dass sie uns besser nicht entdecken.“
„Und was meinte die Herrscherin mit ihrem Spruch, dass ich jemanden verraten haben soll?“
„Oje“, seufzte sie. „Das ist eine alte und lange Geschichte. Ich glaube, es ist besser, dass wir jetzt lieber weiter gehen.“ Sie stützte sich an der Wand und trottete weiter.
Sie gingen eine Weile, ohne ein Wort zu sagen. Der Boden wurde trockener. Annas schleifende Schritte hallten in den leeren Gängen. Sie hielt hin und wieder für ein paar Sekunden an, lehnte sich an die kalte, poröse Wand, atmete tief ein und setzte ihre Wanderung fort. Hinter der nächsten Kurve wurde der Boden wieder nasser. Die Füße stecken wieder fest und ließen sich nur schwer dort herausziehen. Der Matsch stieg allmählich höher. Jeder Schritt wurde für sie zur Qual.
Plötzlich bewegte sich die kühle abgestandene Luft. Sie wurde zu einem Sog, der die beiden nach vorne mit sich zerrte. Anna strauchelte und fiel in den Schlamm. Ian holte sie rasch ein und beugte sich zu ihr vor: „Geht es dir gut?“
Sie stützte sich mit der Hand vom Boden ab und setzte sich, dann presste den Zeigefinger der freien Hand zum zusammengekniffenen Mund und deutete mit ihrem halb erschrockenen Blick hinter ihn, in die Richtung, aus der der Sog kam.
Ian drehte sich um. Eine riesige, silbern schimmernde Wolke erschien aus der nächsten Kurve und raste auf die beiden zu.
Anna schnappte ihn am Arm, zog ihn rasch in den kühlen Matsch herunter und drückte seinen Kopf tiefer, dann legte sie sich neben ihn in den Schlamm hinein.
Der Sog wurde kräftiger. Die silberne Schar huschte mit einem schrillen Pfeifen über den beiden hinweg und verschwand hinter der nächsten Kurve.
Ian setzte sich auf. Die übel riechende Masse lief von seinen Kleidern hinunter, tropfte von der linken Wange auf die Schulter, durchnässte immer mehr den dünnen Stoff vom Hemd und den Hosen. Er schauderte: „Frisch ist es hier.“
Anna hob sich aus dem Schlamm, atmete tief ein, um etwas zu sagen, aber außer Husten konnte sie nichts mehr bringen. Diesmal dauerte es länger und hörte sich gefährlich an. „Was für eine mistige Luft hier“, presste sie schließlich heraus.
„Mir war, als ob deine Lungen gleich rauskommen“, sagte er. „Wir müssen schnell hier raus.“
Die junge Frau blickte zerstreut in die Dunkelheit des Ganges, in dem die Schar der Drachenseelen verschwunden war. Plötzlich fokussierte sich ihr Blick auf einem Punkt, der wie ein kleiner Stern leuchtete. Er schwebte aus der Kurve und näherte sich den beiden recht schnell. Sogleich sah er wie eine kleine, silbern schimmernde Wolke. Annas Augen wurden groß, der Mund öffnete sich unwillkürlich ein wenig. Sie tappte Ian leicht an der Schulter und deutete darauf mit dem Finger. Er drehte sich um.
Die durchsichtige Erscheinung schien durchaus ein Ziel zu haben. Sie flog auf Ian zu und blieb einige Momente vor seinem Gesicht stehen. Es sah aus, als ob die Wolke ihn musterte. Dann veränderte sie ihre Form, indem sie unten schmaler wurde und nun entfernt einem Totenschädel ähnelte. Sie schwebte dann zu seiner linken Schulter und setzte sich dort auf. Der obere Teil schrumpfte ein wenig, blieb aber senkrecht schweben und endete auf der Höhe seines Scheitels.
Ian stand auf.
Die Wolke baumelte, schimmerte etwas heller, blieb aber dort, wo sie war. Sie vermittelte den Eindruck, dass sie ihren Platz gefunden hatte und dort bleiben wollte.
Er lächelte beseelt und streichelte
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