Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
Sicherheitsmaßnahmen. Auf dem Pflaster vor den Schaufenstern war das Gebäude von Blumenhochbeten umgeben. Die Formgebung konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um tonnenschweren Beton zur Abwehr von Fahrzeugen handelte, die in das Geschäft hineinzufahren versuchten. In diskretem Abstand von der Eingangstür waren zwei Sicherheitskräfte in dunkelblauen Uniformen postiert. An Lampenmasten waren Überwachungskameras installiert. Die Schaufenster selbst waren ebenfalls verhältnismäßig klein. Es gab links und rechts vom Eingang lediglich jeweils zwei, die etwa eineinhalb Meter im Quadrat maßen und in dunklen Granit gefasst waren. Die glitzernde und glänzende Auslage jedoch, die hinter dickem, grünlich schimmerndem Panzerglas sicher verwahrt wurde, ließ dem interessierten Betrachter den Atem stocken. Es war wohl kein Stück ausgestellt, das für unter 15.000 Dollar zu haben war. Van der Beeck war eine Bostoner Institution. Wer etwas auf sich hielt und es sich leisten konnte, kaufte hier.
Als ich zielstrebig auf den Eingang zuging und vor der Messingtür stehen blieb, kam einer der beiden Sicherheitskräfte zu mir, öffnete die Tür per Knopfdruck für mich und erläuterte das Prozedere: „Guten Tag, Sir. Bitte warten Sie, bis die Tür sich hinter Ihnen geschlossen hat. Die Innentür öffnet dann automatisch.“
Da ich nicht das erste Mal hier war, dankte ich ihm lediglich, und trat in die Schleuse. Die Eingangstür schloss sich langsam hinter mir. Ich sah kurz in die Kamera über mir und wartete. Kaum dass die Außentür sich verriegelt hatte, öffnete sich die Innentür aus schusssicherem Glas. Vor mir lag ein lichtdurchfluteter Verkaufsraum, in dem Louis-quinze-Möbel aus dunklem Holz, mit dunkler Seide bespannte Stühle und hohe Tische und Anrichten mit geschwungenen Beinen einen überwältigenden Kontrast zu den in die Wände eingelassenen Vitrinen bildeten, in denen das helle Funkeln der Schaufenster noch übertroffen wurde. Es war kaum zu fassen, dass es in der Umgebung genug Leute gab, die sich derartige Preziosen leisteten, um dieses Atelier des schönen Scheins zu finanzieren.
Eine fotomodellgleiche junge Dame in einem dunkelgrauen Kostüm namens Charlotte begrüßte mich und geleitete mich zu einer der Sitzgruppen.
„Ist Mr. Aldrige im Haus?“, erkundigte ich mich. Sie nahm meine Karte entgegen, und ließ mich in der Obhut einer nicht minder gut aussehenden Kollegin zurück, während sie den Raum verließ, um in Erfahrung zu bringen, ob der von mir gewünschte Gesprächspartner Zeit für mich hatte. Meine neue Gastgeberin bot mir eine reichhaltige Auswahl von Erfrischungen an. Ich entschied mich für ein Glas Champagner, das mir nach den bisherigen Ereignissen des Tages wie gerufen kam.
Horace Aldrige war der Geschäftsführer der Bostoner Niederlassung von Van der Beeck. Er bediente nur ausgewählte Kunden. Dass ich meine Patek Philippe bei ihm erstanden hatte, hatte ich einer Empfehlung von Jack Davis zu verdanken. Guter alter Jack, dachte ich, nun sitze ich wieder hier und wo bist Du?
„Mr. Meyers, wie herrlich Sie einmal wieder bei uns begrüßen zu dürfen. Wie geht es Ihnen?“, begrüßte mich Aldrige so enthusiastisch, als wären wir alte Schulkameraden oder Kriegsveteranen, die jahrelang gemeinsam in schlammschmutzigen Schützengräben gelegen hätten. Beides war objektiv unmöglich, denn Horace Aldrige hatte seine sechzig Jahre längst überschritten. Er hatte eine hohe Stirn, graues seitengescheiteltes Haar, einen grauen Schnurrbart und blassgraue Augen. Er trug einen dunkelblauen Zweireiher, eine in zitronengelb und einem grellen Lachston gestreifte Krawatte und ein passendes Einstecktuch mit floralem Muster. Ich war mir sicher, dass er sich nicht wirklich an mich erinnerte, sondern sich von Charlotte meine Kundenstatistik hatte vorlegen lassen.
„Vielen Dank. Es geht mir bestens. Ihnen auch, hoffe ich?“
„Selbstverständlich, selbstverständlich“, erwiderte Aldrige und schnaubte durch die Nase aus – ein nervöser Tick, den er im Laufe eines Gesprächs mehrfach wiederholte und der, wie ich vermutete, von einer deformierten Nasenscheidewand herrührte. „Ein Mann in meinem Alter … jeden Morgen läuft man Gefahr aufzuwachen, nur um festzustellen, dass man … man muss jeden Tag … und wie könnte man den Tag besser genießen, als in der Umgebung von … solch sublime Schönheit, wie Sie sie hier sehen …“ - er machte eine ausladende Handbewegung, mit
Weitere Kostenlose Bücher