Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
Frustration und missgünstige Blicke zu spüren. Aber vielleicht war das nicht mehr als Einbildung.
Harriet und Margery, die ich zusammen mit Jacks Büro übernommen hatte, hatten den Raum mit meinen wenigen persönlichen Sachen eingerichtet, einen frischen Kaffee und einen Donut auf meinen neuen Schreibtisch gestellt, und ihn mit den dringendsten von Jacks Akten belegt. Der harmlose Eindruck, den der Stapel machte, täuschte, denn der Großteil der zugehörigen Unterlagen war lediglich elektronisch abzurufen. Das papierlose Büro hatte auch den Vorteil, dass die Schreibtische ordentlicher aussahen als in früheren Tagen – ob das Sehvermögen unter der ständigen Betrachtung von Bildschirmen litt, war eine andere Frage.
Ich hatte den Ehrgeiz, die Fälle nicht nur sachlich mindestens ebenso gut wie Jack zu erledigen, sondern auch wesentlich zügiger. Gleichwohl dauerte es den ganzen Tag und bis spät in die Nacht, um den Stapel zu einem Drittel zu bearbeiten. Als ich um 1.45 Uhr in mein Apartment zurückkehrte, fiel ich völlig erledigt ins Bett.
Der Mittwoch verlief nicht wesentlich anders.
Als ich am Donnerstagmorgen in meinem Apartment zu meinem Schreibtisch ging, um einen Stift zum Ausfüllen des Formularbogens für den Wäsche- und Reinigungsservice zu holen, fiel mir das bräunliche Kuvert in die Hände, das der Page mir Anfang der Woche zusammen mit den Asia-Gerichten gebracht hatte.
„EILSACHE“.
Ich nahm den Umschlag und betrachtete ihn näher. „Gericht von Plymouth County – South Port Division“ lautete die Inschrift des Rundsiegels, das auf den Umschlag gestempelt war. Widerwillig riss ich den Umschlag auf und zog einen Papierbogen heraus.
South Port war der letzte Wohnort meines Vaters und dieser Hure gewesen, für die er meine Mutter und mich verlassen hatte, als ich ins Teenageralter kam. Das war bevor er mit ihr in einem brennenden Autowrack – das Fegefeuer gab es also tatsächlich – aus dem Leben geschieden war. Soweit ich wusste, lag der Ort an der Küste, südlich von Plymouth. Ich war nie dort gewesen, wie ich überhaupt, seit der Trennung meiner Eltern, kaum Kontakt zu meinem Vater gehabt hatte.
Spätestens durch die Trennung war unsere kleine Familie zerbrochen. Meine Mutter hatte es in dem Ort, wo wir gewohnt hatten, nicht länger ausgehalten. Sie hatte alles daran gesetzt, die Vergangenheit zu begraben und ein neues Leben zu beginnen. Wechselnde Männer hatten sie dabei unterstützt und jeder neue Freund hatte einen Umzug mit sich gebracht. Von den Umzügen und den Versager-Typen hatte ich an der P.A. und später im College glücklicherweise nicht allzu viel mitbekommen. Das, was ich in den Anfangsjahren mitbekommen hatte, hatte mir gereicht. Seit einigen Jahren nun war meine Mutter sesshaft geworden und lebte mit ihrem Lebensgefährten, einem Gebrauchtwagenhändler namens Joe, irgendwo im Nirgendwo des Mittleren Westens. Zu Weihnachten tauschten wir Karten aus. Hatten wir Karten ausgetauscht, muss ich sagen. Die Letzten hatte ich nicht beantwortet.
Ich überflog die Zeilen auf dem Papier:
„Sehr geehrter Mr. Meyers!
… wird angeordnet, dass Sie sich unverzüglich, spätestens bis Montag, den 19. Juli, dem ehrenwerten Gericht von Plymouth County, Abteilung South Port, vorzustellen haben …
Hochachtungsvoll
Charlton D. Rutherford
Richter
Ausgefertigt:
Camille Sunley
Gerichtszeiten: in der Zeit von Montag bis Donnerstag in der Zeit von 9.00 Uhr bis 15.00 Uhr und Freitag in der Zeit von 9.00 Uhr bis 12.00 Uhr.“
Das konnte doch wohl nur ein schlechter Scherz sein. Ich las die Ladung noch einmal. Diesmal überflog ich den Text nicht, sondern studierte ihn Wort für Wort und versuchte, einen verborgenen Sinn zu erkennen, der mir zuvor womöglich entgangen war.
Nichts.
Keine Begründung.
Es ergab keinen Sinn.
Was um Himmels willen hatte ich in South Port verloren? Mein Vater war nun seit wie vielen Jahren tot? Es mussten inzwischen an die Fünf sein. Aber sein Testament war längst eröffnet worden. Ich hatte aus seinem Nachlass eine Summe von rund 60.000 Dollar erhalten, die ich auf Empfehlung von Stephen, der bei einer Bostoner Privatbank arbeitete und sich für einen Insider des Private Equity-Sektors hielt, in vielversprechende Anteile an aufstrebenden Start-Ups investiert hatte. Der Wert der Anteile war mittlerweile um 95 Prozent gesunken. Steve konnte sich den Verlust leisten, ich weniger.
Wenn aber alle Angelegenheiten meinen Vater betreffend endgültig
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