Anne - 01 - Anne - 01 - Das Leben wird schöner Anne
ich, das kannst du dir doch denken.«
Drinnen hatte Timm am Radio gedreht, bis er Tanzmusik erwischt hatte. Er fing Anne in seinen Armen auf, und trotz ihrem Widerspruch zwang er sie auf den Tanzplatz im Eßzimmer.
»Ich kann nicht tanzen«, protestierte Anne schwach.
»Ach was«, sagte Timm. »Tanzen kann jedes Mädchen, wenn es siebzehn und noch nicht geküßt ist. Bist du das, Anne?«
»Ja«, sagte Anne, und das Lachen sprudelte in ihrer Kehle.
»Auch noch nicht geküßt?« fragte Timm.
»Na rate mal«, sagte Anne.
»Als ob ich das wüßte!« rief er und schnitt dazu eine Grimasse. »Du, tritt mir nicht auf meinen kleinen Zeh. Der ist meine Achillesferse. Mein Achilleszeh, meine ich. So, mach dich locker. Ich führe. Hör gut auf die Musik, dann geht’s. So, ja.«
Es war mühevoll, mit Timm zu tanzen, und Anne empfand es als eine große Erleichterung, als Jess sie zum nächsten Tanz aufforderte. Mit Jess ging es viel leichter.
Es wurde ein anstrengender Abend. Aber er trug Anne immerhin ein Abendkleid, einen Ledergürtel, ein Theaterbillett, vier neue Bekanntschaften, viele gute Ratschläge und die notwendigsten Kenntnisse im Tanzen ein.
Jess brachte sie nach Hause. Sie erwähnte beiläufig, daß Frau Aspedal ihr erlaubt habe, ein paar Schulfreunde einzuladen. Sofort schlug Jess ihr vor, mit einigen Klassenkameraden den Alt Jahrsabend bei ihr zu feiern. Jeder sollte dann etwas stiften: Würstchen, Kartoffelsalat und Bier. Er würde alles regeln und den Schulfreunden Bescheid sagen. »So etwa acht bis zehn Leute - was meinst du dazu, Anne?«
Selbstverständlich hatte Anne nur eine Meinung darüber. Sie nickte und drückte Jess begeistert die Hand.
Anne gibt eine Gesellschaft
Daells waren die ersten Menschen in der Stadt, die begriffen, wie richtig alles war, was Anne tat. Sie würde schon ihren Weg machen - davon waren Herr und Frau Daell und auch Jess überzeugt. Anne war ein offenes, geradliniges Menschenkind. Sie schämte sich nicht, daß sie Hausgehilfin war und gegen Bezahlung stricken mußte. Sie schämte sich nicht, daß sie kein Geld hatte. Nach ihren Begriffen war jede Arbeit gleich ehrenhaft. Eine Schande wäre es für sie gewesen, anderen zur Last zu fallen. Aber es war keine Schande, daß sie zu Anfang allem in der Stadt fremd gegenüberstand, von der elektrischen Hausglocke bis zu einer Theatervorstellung.
Ein Norweger - und wenn er in der Hauptstadt lebte - hatte ja auch noch nie eine Bananenpalme oder einen Teestrauch gesehen. Oder ein Italiener kannte die Mitternachtssonne nicht. Anne wußte, wenn sich jemals einer ihrer Klassengefährten nach Möwenfjord verirren sollte, so würde er dort ebenso fremd und hilflos dastehen wie sie am Anfang in der Stadt. Er würde kein Boot bei hartem Wetter rudern und nicht im Stall bei einer kalbenden Kuh wachen können. Das, was bisher von Anne verlangt worden war, das hatte sie gemeistert. Und die neuen Forderungen, die nach und nach auftauchten, würde sie auch noch erfüllen, wenn ihr nur ein wenig Zeit gelassen wurde.
Sobald Jess sich einer Sache annahm, klappte sie. Er läutete acht Klassenkameraden an. Jeder war einverstanden. Sie wollten einen Löffel Kaffee mitbringen, dazu drei Kronen pro Nase für Essen und Bier. »Langes oder kurzes Kleid?« fragten die Mädchen. Jess dachte an Annes neue Kleiderpracht und sagte: »Langes, natürlich!«
Er kam eine Stunde vor den anderen und packte mit an. Er half beim Tischdecken, er stellte Lichter und Blumen auf die Plätze. Ja, Jess war nicht umsonst seiner Mutter Sohn.
Und so geschah es, daß Anne in der ersten Jugendgesellschaft, die sie mitmachte, selbst die Gastgeberin war. Es machte ihr viel Freude, sie fürchtete keine Schwierigkeiten, denn sie hatte Jess’ hilfreiche Hand zur Seite und Jess’ aufmerksame Augen als Stütze.
Die Klassenkameraden wurden jetzt endlich auf Anne aufmerksam, als sie bei ihr zu Gaste waren. »Du, Anne«, sagte Britt, »warum bist du in der Schule nicht genauso wie zu Hause?«
»Bin ich denn dort anders?«
»Ja, du bist so still! Nicht die Spur aufgekratzt. Warum kannst du nicht immer so sein, wie du in Wirklichkeit bist?«
Anne richtete gedankenvoll ihre Augen auf Britt. Sie hatte die ruhige Sicherheit, die man bekommt, wenn eine Gesellschaft gut geht und wenn man das Gefühl hat, hübsch und gut angezogen zu sein. »Vielleicht weiß ich gar nicht, wie ich in Wirklichkeit bin. Das ist es ja, was ich herausfinden möchte«, sagte sie langsam. Dann brach sie
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