Annika Bengtzon 09: Weißer Tod
verfolgt, oft unter dem unverhohlenen Stöhnen und Augenverdrehen der Redaktionsleitung. In 38 Prozent der Fälle wurde die Tat mit einem Messer begangen. Danach kamen Erwürgen, Erschießen, Erschlagen mit Äxten und anderen Hiebwaffen, tödliche Misshandlung durch Tritte und Schläge und schließlich obskure Methoden wie Tötung durch Stromschläge und Bolzenschussgeräte.
»Taten von wahnsinnigen Mördern werden in drei Kategorien aufgeteilt«, sagte Berit. »Massenmord, Sexualmord oder Mord als Folge eines anderen Verbrechens, meistens Raub.«
»Das passt in diesen Fällen aber nicht«, sagte Annika.
Sie griff nach der Morgenzeitung und studierte die Fotos der fünf getöteten Frauen: Sandra, Nalina, Eva, Linnea und Lena. Normale, durchschnittliche Gesichter von Frauen unterschiedlichen Alters, Frauen, geschminkt und mit verschiedenen Frisuren, vermutlich hatten sie alle mit irgendwelchen Diäten gekämpft, um ihr Gewicht zu halten, und sich mit Job und Kindern und unglücklichen Beziehungen abgeplagt.
Konnten sie einem verrückten Mörder zum Opfer gefallen sein? Wenn sie nun tatsächlich mit ihrem eher sarkastisch gemeinten Kommentar gegenüber Patrik ins Schwarze getroffen hatte?
»Was willst du schreiben?«, fragte Annika.
Berit seufzte.
»Ich habe Anweisung bekommen, die Exmänner der Frauen zu interviewen, außer dem einen, der hinter Gittern sitzt. Unter dem Gesichtspunkt, dass die Polizei nun endlich den tatsächlichen Mörder jagt.«
»Sollte nicht besonders schwierig sein«, sagte Annika.
»Überhaupt nicht. Bisher habe ich mit dem Mann in Nacka und dem in Hässelby gesprochen, und beide haben erschreckend frei von der Leber weg erzählt.«
»Warum überrascht mich das nicht?«, sagte Annika.
»Sie haben keine Scheu, sich ausführlich darüber auszulassen, was für Schlampen ihre Exfrauen waren. Natürlich sind sie am Boden zerstört, dass die Ex tot ist, aber wenn man bedenkt, wie sie sich aufgeführt hat, war eigentlich nichts anderes zu erwarten.«
»Und dass sie ihre Frauen früher geschlagen und bedroht haben sollen, ist natürlich nichts als Lüge und üble Nachrede«, sagte Annika.
»Selbstverständlich. Der Mann, der wegen Körperverletzung verurteilt wurde, hat sich natürlich nie was zuschulden kommen lassen, und wenn er ihr wirklich mal eine gelangt hat, war das längst nicht so schlimm, wie sie immer behauptet hat.«
»Im Grunde war sie natürlich selbst schuld«, sagte Annika.
Ihr Handy piepste wieder, noch eine SMS . Draußen verschwand langsam das Tageslicht – vielleicht weil die Wolkendecke dichter wurde oder der Tag zu Ende ging. Sie wusste es nicht mit Sicherheit.
»Die Frage ist, was ich eigentlich schreiben soll. Ich kann doch die Männer nicht darüber schwadronieren lassen, was für Unschuldslämmer sie sind. Dann müsste man die ganze Problematik erklären, und dafür ist kein Platz.«
»Das Hauptproblem bei allen Mordfällen«, sagte Annika. »Wir haben immer nur eine Version.«
»Ich lasse die Leser ihre eigenen Schlüsse ziehen«, sagte Berit.
»Die Mehrheit wird den Männern glauben«, sagte Annika und schlug die Zeitung auf. »Wie viele von ihnen sitzen, sagst du?«
»Nur Barham Sayfour, Nalina Barzanis Cousin. Wenn er entlassen wird, schieben sie ihn ab, denn jetzt ist ja seine Familienverbindung weg.«
»Hoppla«, sagte Annika. »Daran habe ich nicht gedacht.«
Es piepste in der Leitung, ein wartendes Gespräch.
»Da ruft jemand an«, sagte Annika. »Ich muss Schluss machen.«
»Und ich muss schreiben«, sagte Berit. »Der nächste Drahtseilakt …«
Annika drückte Berit weg und nahm das wartende Gespräch an. Anne Snapphane.
»Ich stehe hier unten vor dem Haus. Kann ich raufkommen?«
Es blitzte und funkelte um Anne Snapphane, als sie in den Flur trat, Glitzerpulli und Strassarmband und jede Menge Glanzspray im Haar.
»Es hat geklappt!«, jubelte sie und umarmte Annika. »Endlich ist es durch!«
Annika erwiderte die Umarmung und lächelte.
»Glückwunsch. Was ist durch?«
»Jetzt könnte ich wirklich einen Drink vertragen, aber ich begnüge mich mit einer Tasse Kaffee.«
Anne Snapphane war seit vielen Jahren trockene Alkoholikerin.
Annika ging in die Küche und schaltete den Wasserkocher ein.
»Wenn ich die erste Rechnung für meine neue Interviewserie gestellt habe, kaufe ich dir eine richtige Kaffeemaschine«, sagte Anne und ließ sich am Küchentisch nieder.
Annika sah sie verwundert an.
»Mach nicht so ein skeptisches
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