Antarktis 2020
verschwand das Seil in einer Schneewehe. Er stand dicht vor dem Schneeberg, sah aber nur einen kleinen Ausschnitt davon, oben und unten verschwamm er im Weiß. Das wird die Leeseite der Station sein, überlegte Thomas. Die Wehe ist das Werk des Orkans. Verdammter Mist. Soll ich mich an dem Berg entlangtasten? Irgendwo an seinem Ende mußte die Station sein.
Nicht doch! Wenn nun die Wehe in die Ebene übergeht und nicht zur Station führt? Aber wenn Deland nicht zu dem gleichen Schluß gekommen war – in seiner Verfassung? Dann konnte von hier aus ein unheimlicher Irrweg einen Anfang genommen haben.
Thomas hielt sich die Uhr vor die Augen und schoß wieder. Etwa eine Stunde war Deland draußen, bevor ich die ersten Schüsse abgab, überlegte er. Im ungünstigsten Fall hat er sich geradlinig vom Iglu entfernt. Wenn ich voraussetze, daß er dreihundert Meter nicht in fünf, sondern in zehn Minuten zurückgelegt hat, ist er trotzdem längst außer Hörweite. Mehr als siebenhundert Meter gab Thomas dem schwachen Knall der Pistole nicht, vor allem nicht in dem wattigen Weiß. Aber es war sehr unwahrscheinlich, daß sich Deland geradlinig fortbewegt hatte.
In der Wetterstation ist er sicher nicht… Wenn ihm aber dort etwas zugestoßen ist? Oder er ist tatsächlich einfach fortgegangen, in den weißen Tod, freiwillig… Unsinn! Er hat sich verirrt!
Thomas schoß wieder, aus dem letzten Magazin. Zwischen den Schüssen lauschte er. Noch zweimal vermeinte er, weit in der Ferne einen Ruf zu hören – oder er wünschte sich, es sei ein Ruf gewesen.
Dann war auch die letzte Platzpatrone verschossen. Zu seinen Füßen rieselte, von leichtem Wind getragen, unaufhörlich der Schnee. Verzerrt, wie ein Schemen, war hinter ihm der Eingang zum Iglu. Das einzige, was er wirklich sah und an das er sich hielt.
Er lud die Leuchtpistole. Noch fünfzehn Minuten… Der Knall war dumpf. Das grüne Licht verzischte oben, verwischte zu einem fahlen Fleck, verschwand.
Er lauschte. Wieder nichts.
Die nächste Kugel war rot. Einen Augenblick sah es aus wie Sonnenuntergang bei starkem Dunst, dann war alles wieder weiß.
Thomas wurde angst. Was wird, wenn die letzte Kugel aus dem Lauf ist? Erst jetzt dachte er daran, daß er sich werde entscheiden müssen. Auf Hilfe von der Station warten? Die konnte erst wirksam werden, wenn wieder normale Sichtverhältnisse herrschten. Noch jemanden herrufen, einen Blindflug riskieren… Es würden Stunden vergehen.
Ich kann nichts machen! Diese Erkenntnis bedrückte Thomas. Dann erst fiel ihm ein, daß es ja Deland war, jener, der ihm geschadet hatte. Ihn fror. In ihm stritten Wut und Angst. Wut auf Deland, der ihn in eine solche Situation gebracht hatte, Angst vor den nächsten Stunden.
Er hatte die letzte Kugel geladen.
Immer wieder sagte er sich: Ich kann nichts machen, nur hoffen, daß das Wetter umschlägt. Vielleicht haben sie sich auch in der Station etwas überlegt. Daran klammerte er sich.
Dann zischte die letzte Kugel, eine weiße. Es wurde einen Augenblick noch gespenstischer. Wie ein Seidenkokon, umgeben von Sonnenfäden, hing die Kugel Bruchteile von Sekunden über Thomas, verschwand.
Er wartete noch fünf Minuten. Dann ging er niedergeschlagen in den Iglu und funkte Empfangsbereitschaft. Die Kombi zog er aus. Die Gesichtsmuskeln konnte er kaum bewegen. Seine Lippen schienen ihm wie holzige, kalte Kohlrabistücke zu seien. Er hatte die ganze Zeit vor Aufregung keine Gesichtsmaske getragen.
Thomas erhielt die Mitteilung, daß Richard und ein weiterer Kollege trotz des Wetters vorzeitig aufbrechen wollten. Richard rechnete, daß er sechs Stunden brauchte. Er werde sich streng an den Leitstrahl halten und mit Kurzradar fahren, um nicht unvermutet an Hindernissen zu scheitern. Sie würden dann gemeinsam, sobald das Wetter es zuließ, vom Iglu aus Deland suchen, unterstützt von zwei Hubschraubern. Bis zum Eintreffen der Kollegen sollte Thomas nichts unternehmen.
Thomas konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie sich in TITANGORA Gewissensbisse machten, ihn als Neuling hierhergeschickt zu haben. Sollten sie nur. Andererseits gab es in der Abteilung wahrscheinlich sowieso kaum jemanden, der Erfahrungen in der Außenarbeit hatte. Die wichtigsten Messungen wurden vor zehn Jahren hier draußen durchgeführt.
Sie wünschten ihm alles Gute. Als der Funker bereits den Endcode zu senden begann, meldete sich Lewrow.
»Kollege Monig, wie geht es?« fragte er in einem Tonfall, den Thomas an
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