Antarktis 2020
ganz fest saßen, und band die Litze am Tornister fest. Danach löste Thomas seine Stapfschuhe, schnürte sie aneinander, spreizte Deland die Beine und befestigte dessen Füße je an einem Ende der zusammengefügten Stapfschuhe. Er probierte nun, ob er Deland mit einem kurzen Ruck auf den Bauch wälzen konnte. Es gelang, verhindert durch die gespreizten Beine, nicht – er würde also nicht im Schnee ersticken.
Thomas ließ Deland liegen, band jeden entbehrlichen Gegenstand ebenfalls an die Litze, warf einen letzten Blick auf den Verunglückten, zog seinen Leibgurt mit über die Litze, schloß ihn locker, so daß er an der Litze entlangglitt, und stapfte los.
Schon die ersten hundert Meter brachten ihn an den Rand der Verzweiflung. Ohne die Stapfschuhe wurde jeder Schritt in dem mulmigen, lockeren Neuschnee zur Tortur. Er brach unterschiedlich tief in die darunterliegende Harschschicht ein. Nach wenigen Minuten rann ihm der Schweiß über den Rücken. Mehrmals wollte er dem verlockenden Gedanken: Bleib hier, Richard findet dich! nachgeben. Aber so viel Kraft hatte er noch, um sich die Konsequenz auszumalen, wenn sich Richard aus irgendeinem Grunde verspäten sollte…
Thomas hörte so etwas wie einen Ruf, ganz entfernt, nahm einen dunklen Gegenstand wahr, der plötzlich aus dem Weiß herauswuchs, verspürte einen Widerstand, glitt daran zu Boden. Er brauchte lange, bis er begriff, daß es Richard war, der ihm zu Fuß entlang der Litze entgegengekommen war.
Das erste, das wirklich in sein Bewußtsein drang, war das Gefühl, kräftig durchgerüttelt zu werden. Richard schüttelte ihn. Als Thomas blinzelte, raunzte er ihn an: »Sieh da, der Schlauberger kommt zu sich! Wohl ein bißchen lebensmüde, wie?« Er ließ Thomas los. »Und das andere Rindvieh? Hops, kann ich mir denken!«
Thomas wollte etwas sagen, seine Kehle schmerzte, war ausgedörrt, entzündet durch die eisige Luft. So schüttelte er nur den Kopf und deutete unbestimmt hinter sich.
Plötzlich kam Leben in Richard. Trotz seines erbärmlichen Zustands glaubte Thomas wahrzunehmen, daß sich der spöttisch-ärgerliche Gesichtsausdruck in einen mißtrauisch-achtungsvollen verwandelte. »Wo?« herrschte er Thomas an. »Am Ende, Litze, an-ge-bunden«, krächzte Thomas mühsam.
Richard sprach in das Handfunkgerät. Er wies Charles, seinen Begleiter an, schnell zu kommen. Dann lud er Thomas wie einen langen lockeren Sack über den Nacken und stapfte in Richtung Iglu. Die Litze ließ er dabei über den Handschuh der linken Hand gleiten.
Thomas stieg das Blut zu Kopf, aber ihm war wohl, irgendwie war er glücklich.
Schon in der Nacht setzte leichter Wind ein. Er vertrieb Weiße, Finsternis und Nebel und brachte Sonnenschein, die Temperatur sank unter minus fünfzig Grad.
Thomas fühlte sich leidlich: ein wenig zerschlagen, arge Schluckbeschwerden. Aber das auf Richards Schultern empfundene Gefühl hielt an. Es war so eine Art Triumph aus mancherlei Ursachen: Denen in TITANGORA hatte er’s gegeben, Deland gezeigt, wie großmütig er sein konnte – und schließlich hatte er sich selbst überrascht, war er doch für einen, der ihm sogar geschadet hatte, selbstlos ins Ungewisse, in die Gefahr gegangen. Er wußte nicht zu sagen, welches Hochgefühl überwog. Jedenfalls konnte er es am nächsten Morgen kaum erwarten, daß Deland aufwachte.
Richard drängte zum Aufbruch. Das Mammut hielt er startbereit. Doch Thomas wollte davon nichts wissen. Er bestand darauf, die Messungen, die der Schneesturm unterbrochen hatte, zu beenden. Er schimpfte sogar auf Richard, daß er trotz der Eile des Aufbruchs die benötigten Instrumente nicht mitgebracht hatte. Selbstverständlich brannte Thomas gleichfalls darauf, nach Abschluß der Arbeiten so schnell wie möglich nach TITANGORA zurückzukehren, denn jetzt mußten sie ihn anerkennen, und nach vollendeter Messung noch mehr. Er war auch gespannt, wie Deland sich verhalten würde.
Zunächst verhielt er sich auf seine Art ganz normal, enttäuschend normal. Er schlug die Augen auf, drehte langsam den Kopf, sah die anderen groß an und schloß die Lider wieder. Dann, nach etwa fünf Minuten, die den anderen beträchtlich lang vorkamen und während denen sie kein Wort sprachen, sagte er mit brüchiger Stimme: »Bitte, etwas zu trinken.«
Richard half ihm, sich aufzurichten, und gab ihm einen Becher Saft.
Deland trank langsam, sah die Gefährten über den Becher hinweg an und fragte dann, nachdem er ihn abgesetzt hatte, den
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