Anubis - Roman
zerschmetterte Automobil hinab. Seine Stimme wurde leiser. »Ich hätte sie zurückhalten können. Ein einziges Worthätte genügt und sie wären geblieben. Ich wollte , dass sie fuhren. Ich dachte, es wäre sicherer für sie. Ich habe sie umgebracht, weil ich sie retten wollte. Wäre es nicht so entsetzlich, könnte man es für einen besonders gelungenen Scherz des Schicksals halten.«
»Ich … verstehe nicht, was …«, begann Mogens.
»Nein, natürlich nicht«, unterbrach ihn Graves. »Wie könntest du auch? Ein weiterer Fehler, Mogens. Vielleicht ist es das, was ich immer am meisten an dir gehasst habe: Du führst mir meine menschliche Unzulänglichkeit vor Augen.«
»Jonathan, bist du verrückt?«, fragte Mogens. »Miss Preussler ist mit Tom dort unten, und du …«
»Miss Preussler ist nicht in Gefahr«, unterbrach ihn Graves.
Mogens blinzelte. »Sie ist mit Tom dort unten«, wiederholte Mogens.
»Und damit wahrscheinlich sicherer, als wäre sie hier bei uns.« Graves lächelte, als er Mogens’ Verwirrung registrierte.
»Hast du denn nicht verstanden, was ich dir über Tom erzählt habe?«, fragte Mogens.
»Jedes Wort«, erwiderte Graves. »Aber es gibt da etwas, was ich dir über Tom erzählen muss. Du hast Recht, Mogens. Er … hat diese Kreatur auf dem Friedhof gesehen. Du hast sie dir nicht nur eingebildet.«
Mogens schwieg. Graves’ Eröffnung traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Er versuchte irgendeinen Sinn darin zu erkennen, aber es gelang ihm nicht – vielleicht, weil er zu spüren begann, dass sich hinter diesem scheinbaren Eingeständnis ein noch viel größeres und schrecklicheres Geheimnis verbarg. Er war nicht sicher, ob er es wirklich kennen wollte.
»Komm, Mogens, fahren wir weiter.« Graves warf seine Zigarette auf den Boden und trat sie sorgsam mit dem Absatz aus, bevor er sich umdrehte und mit raschen Schritten um den Wagen herumging, um wieder hinter dem Steuer Platz zu nehmen. Er ließ den Buick anrollen, kaum dass Mogens sich neben ihn gesetzt und noch bevor er wirklich Zeit gefundenhatte, die Tür zu schließen, aber er fuhr jetzt nicht mehr annähernd so schnell wie zuvor.
Ohne sein Zutun, aber auch ohne dass er etwas dagegen tun konnte, saugte sich Mogens’ Blick an der unregelmäßig ausgebrochenen Lücke in der Friedhofsmauer fest. Sein Herz begann schneller zu schlagen, und er ertappte sich dabei, die Hände im Schoß zusammenzufalten, damit sie nicht zitterten. Anders als bei den ersten beiden Malen, die er diesen Friedhof zuvor gesehen hatte, lag der Bereich jenseits der niedergebrochenen Mauer jetzt im hellen Sonnenlicht da, sodass er erkennen konnte, dass dort absolut nichts war, was er hätte fürchten müssen. Aber dasselbe hatte Mercer vermutlich auch gedacht, als er sich eben dieser Stelle näherte, und nicht einmal eine Minute später waren er und die beiden anderen tot gewesen.
Graves sprach erst weiter, als sie die Stelle passiert und ein gutes Stück hinter sich gelassen hatten. »Du darfst es Tom nicht übel nehmen, Mogens. Er wollte dich nicht belügen. Ich musste ihn richtiggehend dazu zwingen, dir diese haarsträubende Geschichte aufzutischen.«
»Er war sehr überzeugend«, sagte Mogens. Seine Stimme war so flach, dass er fast selbst davor erschrak.
»Der Junge mag dich, Mogens«, antwortete Graves. »Gerade deshalb wollte er dich nicht anlügen.«
»Worauf … willst du hinaus, Jonathan?«, fragte Mogens stockend. »Willst du damit sagen, dass Tom … Bescheid weiß?«
»Ich bin nicht wegen des Tempels hierher gekommen«, antwortete Graves. »Ich bin ihretwegen hier.« Er machte eine abgehackte Kopfbewegung auf die Friedhofsmauer, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. »Dass wir den Tempel entdeckt haben, war eher ein Zufall.«
»Und Tom …?«
»Oh, er hat dir die Wahrheit gesagt, was das betrifft«, versicherte Graves hastig. »Er stammt tatsächlich aus dieser Gegend. Und er hat den Zugang zum Tempel auch wirklich rein zufällig gefunden. Aber während der letzten fünf Jahre«, fügte er nach einer winzigen, aber spürbaren Pause hinzu,»hat er mich zum größten Teil auf meinen Reisen begleitet. Vieles von dem, was ich herausfinden konnte, habe ich Tom zu verdanken. Ohne ihn wäre ich möglicherweise schon nicht mehr am Leben, Mogens, ganz gewiss aber nicht hier.«
»Fünf Jahre?«, wunderte sich Mogens. »Aber damals muss er gerade …«
»Zwölf«, bestätigte Graves. »Er war ungefähr zwölf Jahre alt, vielleicht auch
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